Die Hüterin des Schattenbergs
dass Jemina zuvor eine T ür oder eine A bzweigung hatte ausmachen können. Dann sah sie, wie ein Nerbuk die W and mit seinem T entakel berührte. Kaum, dass er das getan hatte, zeichneten sich im Gestein die leuchtenden Umrisse einer T ür ab, die wie aus dem Nichts auf der W and erschien. Geräuschlos schwang sie auf.
Die Nerbuks traten zur Seite und schauten Jemina an.
Geh!
Jemina gehorchte. W ieder erschien es ihr so wie auf Doh-Jamal, als sie die Höhle betreten und sich den Prüfungen gestellt hatte. A uch hier entflammte ein Licht in dem Raum hinter der T ür, als sie eintrat. A ber anders als auf der Insel war die Quelle ein einziger, sehr heller Lichtkegel, der genau in der Mitte des Raums von der Decke der Kammer zu Boden fiel. Es sah fast wie ein Sonnenstrahl aus, doch als Jemina nach oben schaute, konnte sie weder ein Fenster noch eine Luke erkennen; das Licht schien direkt dem Gestein zu entspringen.
Mitten im schlanken Lichtstrahl stand ein einziger Gegenstand. Ein hochbeiniges, viereckiges Stehpult mit einer kleinen, leicht nach vorn geneigten Platte.
Jeminas Herz begann heftig zu pochen, als sie den eigentümlichen T isch entdeckte. Efta hatte einen ähnlichen besessen; ein Lesepult, auf das sie sehr stolz gewesen war. Mit angehaltenem A tem trat Jemina näher – und blieb enttäuscht davor stehen. Das Pult war leer. Eine dicke Staubschicht verriet, dass hier schon seit Generationen kein Buch mehr gelegen hatte.
Und nun? Ratlos starrte Jemina die Staubschicht an. Hatten sich die Nerbuks einen Spaß daraus gemacht, sie in die Irre zu führen? Jemina seufzte. W ar vielleicht das Buch selbst schon längst zu Staub zerfallen? Nachdenklich hob sie die Hand und berührte mit dem ausgestreckten Zeigefinger die Staubschicht. Der sanfte Druck ließ eine kreisrunde Mulde entstehen, an deren Grund das dunkle Holz des Stehpults hindurchschimmerte. A ls Jemina die Hand zurückzog, blieb ein T eil des Staubs an ihrer Fingerkuppe haften und funkelte silbern im Lichtschein. Jemina spitzte die Lippen und blies ihn fort. Der A temzug streifte das Pult und wirbelte auch dort ein wenig Staub auf. Glitzernd und funkelnd stoben die winzigen Partikel durch das Licht, bildeten einen kleinen W irbel, der über dem Pult zu tanzen schien, und sanken dann wieder so exakt auf das Pult nieder, dass die kleine Mulde des Fingerabdrucks verdeckt wurde und eine neue, makellos glatte Fläche aus stumpfem Grau entstand.
Seltsam. Jemina blinzelte. Neugierig geworden, holte sie Luft und blies etwas kräftiger über den Staub. Diesmal stob so viel davon auf, dass ein funkelnder Nebel entstand. Die glitzernden T eilchen wirbelten durch das Licht und formten nach nur wenigen A ugenblicken erneut einen silbrig schimmernden W irbel, der, immer durchscheinender werdend, so lange auf dem Pult umhertanzte, bis alle Staubkörner wieder an ihrem Platz lagen.
Zauberstaub! Das W ort formte sich wie von selbst in Jeminas Gedanken. Nun wollte sie es ganz genau wissen. Entschlossen füllte sie ihre Lungen erneut mit Luft und blies noch einmal kräftig über das Pult. Der Luftzug riss die oberen Staubschichten mit sich fort, sodass das dunkle Holz der T ischplatte durch den verbleibenden dünnen Staubschleier gut zu sehen war. Darüber tobte ein regelrechter Sturm aus funkelnden Staubkörnchen.
Jemina ließ den W irbel nicht aus den A ugen und bemerkte staunend, dass trotz des wilden T anzes kein einziges Körnchen den Lichtkegel verließ. Kaum, dass eines der funkelnden T eilchen die Grenze von Licht und Schatten berührte, prallte es ab und wurde ins Licht zurückgeschleudert, als gäbe es dort eine unsichtbare Mauer, die nicht durchdrungen werden konnte. Nach einer kurzen Zeit der Unruhe begannen die T eilchen wieder, sich zu dem schon vertrauten W irbel zu formen, der jedes Staubkorn auf seinem angestammten Platz ablegte. A m Ende war der Lichtschein frei von Staubkörnchen und die Staubschicht auf der Pultplatte so dick und unberührt wie zuvor.
Warum machte sich jemand die Mühe, einen solchen Zauber an diesem abgeschiedenen Ort aufzubewahren? Jemina stand vor einem Rätsel. Sie hatte die Nerbuks gebeten, in dem Buch des Lebens lesen zu dürfen. Und die Nerbuks hatten sie hierher geführt. Das Stehpult war ein Hinweis darauf, dass das Buch zumindest in der Nähe sein musste, aber der Raum war so gut wie leer. A ußer dem Pult gab es nur noch das Licht und den magischen Staub.
Und wenn der Staub einmal das Buch gewesen ist? Jemina hatte
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