Die Hüterin des Schattenbergs
erzweiflung schnürte ihr die Kehle zu. Sie atmete schnell, ihr Herz raste. Den Blick fest auf das Buch gerichtet, ging sie zum Pult zurück, hob die Hand und berührte den Einband leicht mit dem Finger. Er gab nicht nach. Jemina neigte den Kopf etwas zur Seite, hielt den A tem an und hob den Einband vorsichtig ein Stück mit dem Finger an.
Nichts geschah.
Ermutigt hob sie den Deckel des Buches noch etwas weiter an.
Keine V eränderung. Offenbar hatte das Buch nichts dagegen, dass sie es aufschlug.
»Also gut.« Jemina atmete tief ein, fasste den Deckel an und schlug das Buch auf. A ls die Seiten offen vor ihr lagen, erlebte sie die nächste Überraschung. Nichts als leere, weiße Blätter! Jemina stutzte und schlug wahllos eine Seite in der Mitte des Buches auf. W ieder ein leeres Blatt! Sie begann hastig in dem Buch zu blättern, aber ganz gleich, welche Seite sie aufschlug, alle waren leer.
»Das … das darf nicht wahr sein!« Jemina schluchzte auf. Hatte sie wirklich all die Strapazen für ein leeres Buch auf sich genommen? W ar das Buch des Lebens nichts weiter als eine Sammlung unbeschriebener Blätter?
Sie konnte es nicht glauben. Orekh war der mächtigste Magier aller Zeiten. Er hatte sein V olk geliebt. Er würde es niemals belügen. Irgendetwas musste sie übersehen haben. Jemina überlegte fieberhaft. Das Buch schien sehr eigenwillig zu sein. Es ließ sich nur von demjenigen finden, dem es sich auch zeigen wollte. Es weigerte sich, seinen angestammten Platz zu verlassen … W ar es da nicht auch gut möglich, dass es dem erwählten Finder auch nur den Inhalt offenbarte, nach dem er suchte?
Jemina starrte die weißen Seiten an, fand aber nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass sie jemals mit T inte in Berührung gekommen waren.
»Also gut, Buch!«, sagte sie auf eine W eise, als spräche sie mit einem störrischen Kind. »Ich bin gekommen, weil ich deine Hilfe brauche. Ich muss wissen, was zu tun ist, wenn alle Hüter gestorben sind, ohne dass sie die Nachfolger ernannt haben. Denn genau das ist vor einigen T agen geschehen. W enn irgendwo in dir geschrieben steht, was getan werden muss, um das W issen der Hüter zu bewahren und einen neuen Zirkel einzurichten, dann zeige es mir bitte.«
Jemina wartete. Für endlose A ugenblicke geschah nichts. Dann war ein leises Rascheln wie von sprödem Pergament zu hören und schließlich begannen sich die Buchseiten, erst langsam, dann immer schneller, wie bei einem heftigen W indzug umzublättern. Staunend beobachtete Jemina, wie das Buch vor- und zurückblätterte, vom A nfang bis zum Ende, so schnell, dass es für das menschliche A uge kaum zu erkennen war. Das Schauspiel dauerte nur wenige Herzschläge lang, dann lag das Buch aufgeschlagen vor ihr – mit leeren Seiten.
Jemina runzelte die Stirn. Sie war maßlos enttäuscht.
Plötzlich begann das Buch von innen heraus zu leuchten, so gleißend hell, dass Jemina die A ugen schließen musste. A ls das Leuchten erlosch und sie die A ugen wieder öffnen konnte, lag das Buch immer noch aufgeschlagen vor ihr, aber jetzt waren die Seiten nicht mehr weiß, sondern übervoll mit kunstvoll geschwungenen Buchstaben in schwarzer T inte. Jemina konnte die W orte nicht sofort entziffern, wohl aber die Überschrift:
Vom Leben zum Tod – Vom Tod zum Leben.
Das Geheimnis der Wiedergeburt
Das musste es sein! Jemina schnappte nach Luft. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Die Hüter waren tot – Vom Leben zum Tod – und Ulves hatte gesagt, dass ihr W issen nur dann gerettet werden konnte, wenn ihnen jemand folgte und es in die W elt der Lebenden zurückbrachte – Vom Tod zum Leben .
Jemina wusste, was sie zu tun hatte. W enn sie das Buch nicht mitnehmen konnte, musste sie sich Orekhs W orte eben durch Lesen einprägen und Corneus davon berichten. Der T ext war lang und in einer altertümlichen Sprache verfasst. Es würde nicht leicht werden, sich ihn zu merken und wiederzugeben, aber sie hatte keine W ahl. Entschlossen trat sie vor das Buch, beugte sich darüber und begann zu lesen.
9
D ie Stille in dem kleinen Gewölbe schien sich zu verdichten. W ie ein düsterer Mantel hüllte sie Jemina ein, während sie las. Kaum begonnen, schlugen Orekhs W orte sie so in den Bann, dass sie den Blick nicht mehr von den Seiten abwenden konnte:
Hier findest Du Hilfe, Suchender, wenn alles verloren scheint, wenn die Schatten ihre Schwingen ausbreiten und der Fels zu zerbrechen droht. Doch bedenke, dass ich Dir nur den Weg weisen
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