Die Hüterin des Schattenbergs
kann. Den Mut, ihn zu beschreiten, musst Du in dir selbst finden, denn Du bist Der Einzige, der den Lauf der Dinge noch zu verändern vermag. Das Schicksal Selketiens liegt in Deiner Hand …
In meiner Hand? Jemina schluckte trocken. Konnte es sein, dass die W orte ihr galten? Sie erschauderte. Unsinn, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Ich habe doch keine A hnung von Magie. Und mutig bin ich auch nicht – oder?
»Du brauchst meinen Mut nicht. Du hast selbst genug davon«, hatte Rik anerkennend zu ihr gesagt, als sie die Hohe Feste betreten hatten.
Vielleicht hatte er damit ja auch ein ganz klein wenig recht. T atsächlich hatte der W eg zur Feste und die anschließende Suche nach dem Buch mehr Mut erfordert, als Jemina glaubte, aufbringen zu können. Der Ritt auf dem Schwertdrachen, die gewundene T reppe in der Dunkelheit, die geheimnisvollen Lichter im W ald, die Begegnung mit den Nerbuks … Hätte sie von alldem vorher gewusst, wäre sie vermutlich gar nicht aufgebrochen. Inzwischen hatte sie erkannt, dass sie durchaus in der Lage war, etwas mehr auszuhalten, als sie sich zutraute, aber noch mehr Mut? Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf. Orekhs W orte konnten nur einem wahren Helden gelten. Blieb nur zu hoffen, dass es unter Corneus’ Männern einen solchen Helden gab, der die A ufgabe erfüllen konnte.
Mit klopfendem Herzen überflog Jemina den T ext, der ihr immer unverständlicher erschien, weil er sich auf Dinge und Ereignisse bezog, die ihr unbekannt waren. Offenbar war Orekh davon ausgegangen, dass ein Magier das Buch finden und den T ext lesen würde. Es wimmelte nur so von Hinweisen auf Schutzzauber und magische Hilfsmittel, die vermutlich jeder Magier kennen würde. Sie selbst konnte mit all den seltsamen A usdrücken und verwirrenden Formeln nichts anfangen. Eines verstand sie dennoch – der T ext handelte vor allem von einem – dem T od.
Ausführlich beschrieb Orekh seine Erkenntnisse und Gedanken zu diesem T hema, leitete Folgerungen und Formeln daraus ab und erging sich in langen komplizierten Rechnungen. Ihre Enttäuschung wuchs mit jedem neuen Satz und die A ufregung, die sie zu Beginn verspürt hatte, wich einer bitteren Ernüchterung, als sie erkannte, dass wohl nur Corneus selbst den Sinn des T extes in seiner Gesamtheit verstehen und die nötigen Schritte einleiten konnte.
Aber wie sollte er den T ext lesen, wenn sie ihm das Buch nicht bringen konnte? Jemina hatte zu lesen begonnen, weil sie hoffte, sich die wichtigsten Passagen des T extes merken zu können, um diese dann mündlich an Corneus weiterzugeben, aber das war völlig unmöglich. Sie hatte weder Feder noch Pergament bei sich und bezweifelte, dass sich dies in der verlassenen Feste nach so vielen Jahren noch finden ließ. A ußerdem stand zu befürchten, dass die Nerbuks sie nicht noch einmal zu der Kammer führen würden, sobald sie diese verlassen hatte.
Die Nerbuks! Jemina erschrak. W ie lange war sie schon hier? Orekhs W ächter würden gewiss nicht ewig warten. Früher oder später würden sie hereinkommen und sie zwingen, die Kammer zu verlassen. W enn sie bis dahin nicht fündig geworden war, war alle Mühe vergebens gewesen – und Selketien verloren.
Hastig wandte Jemina sich wieder dem Buch zu. In der Hoffnung, doch noch irgendwo einen Hinweis zu finden, der ihr weiterhelfen konnte, studierte sie aufmerksam Zeile für Zeile, nur um am Ende jeder Seite erneut enttäuscht umzublättern.
Das Kapitel bestand aus siebzehn Seiten, die letzten neun überflog sie nur noch in groben Zügen. A uf Seite sechzehn angekommen, wollte sie das Buch schon zuschlagen, als ihr Blick an folgender Zeile hängen blieb:
Wenn Du aber kein Magier bist und die beschriebenen Zauber nicht zu Deiner eigenen Sicherheit anwenden kannst, bleibt Dir nur eine Möglichkeit …
Kein Magier! Das war es!
Jemina beugte sich weit über das Buch, um besser lesen zu können.
Du musst das todbringende Elixier aus geflecktem Schwarzkrallenwurz, das ich eigens für diesen Fall hergestellt habe und in einer Phiole verwahre, in einem Zug herunterschlucken und dem Tod mutig entgegentreten. Achte darauf, dass ein Lebender, der Dir nahesteht, deine Hand dabei hält. Niemals darf er diese loslassen, ganz gleich was auch geschieht.
Hüte Dich, Suchender, denn ohne einen Schutzzauber bist Du im Reich der Toten ganz allein auf die Hilfe der Verstorbenen angewiesen. Sie allein können Dir den Weg zurückweisen, der Dir nur so lange offen steht, wie
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