Die Hure: Roman (German Edition)
was verschwunden ist. Auch den Kleiderschrank inspiziert er, doch da sind nur Kleider.
Ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben, begibt sich der Mann wieder auf die Suche nach seiner Frau. Wenn doch alles wieder so würde wie früher.
Völlige Dunkelheit.
»Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, Baby, fürchte ich kein Unglück, denn dein Stoff und deine Storys trösten mich … Mmmmm …«
Die Stimme schallt im Kopf oder von außen. Innen oder außen. Es ist schwierig, das zu unterscheiden. Als wäre der Schädel zerbrochen wie eine Eierschale und hätte das Innere nach außen und das Äußere nach innen gelassen.
Kalla, Kalla, Kalla mein,
wie fühlt es sich an, so tot zu sein?
So endet also das Leben, in völliger Dunkelheit? Wenn das Grauen vorbei ist, wird alles gleichgültig.
Ein dumpfes Lachen, von außen?
»Mädchen … Du hast die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis gepflückt. Hast einen Schluck vom Wasser des Lebens getrunken. Die Ewigkeit inhaliert wie einen guten Joint. War er gut? Vermutlich ja.« Die Stimme dehnt das letzte Wort, wird miauend.
Vielleicht ist das eine Sinnestäuschung, denkt Kalla. Oder der Himmel.
Pure Dunkelheit, wie unter einem großen Schirm. Als würde man schlafen und vielleicht ein wenig träumen. Als ließe man einen Seewurm durch die Augenhöhlen kriechen.
»He, Mädchen!«
Kalla öffnet die Augen so weit wie möglich, doch sie sieht ebenso wenig Licht wie mit geschlossenen Augen. Sie könnte nicht sagen, ob sie geöffnet oder geschlossen sind. Scharfeinstellung. Schärfer. Noch schärfer.
Ein Aufblitzen. Weiß und golden.
Sie versucht zu sprechen, kann aber den Mund nicht öffnen. Sie will die Lippen berühren, aber ihre Hände sind nicht erreichbar. Sie sind nicht zu fühlen. Als wären sie nicht da, wo sie sein sollen.
»Ich heiße Ereškigal- AH .« Der Name endet in einem sinnlichen Seufzer. »Erhebe dich von den Knien und gehe.«
Die weiche Frauenstimme spricht pompös wie in alten Bibelfilmen. Oder in irgendeinem Streifen mit Elisabeth Taylor, in dem die Farben einem grell in die Augen knallen.
Die Augen explodieren! Der Sack wird aufgerissen: entsetzliche Helligkeit. Kalla blinzelt, sucht ihre Hand, um sie über die Augen zu legen. Alles ist schwarz und weiß.
Vor ihr steht ein sechs oder sieben Meter großes Wesen mit einem riesigen Kopf. Nein, es ist nicht der Kopf, sondern die Frisur. Übergroße goldene Ketten. Schwarzer Satin umhüllt die prallen schwarzen Gliedmaßen. Und das Lächeln gewaltige vergoldete Zähne.
»Ereškigal«, wiederholt die hochgewachsene Frau mit etwas weniger Druck auf der letzten Silbe und hebt die Arme, die gar keine Arme sind, sondern silbergraue Flügel. »Willkommen in der Ewigkeit«, sagt sie.
Sie beugt sich zu Kalla herunter, sammelt deren Körperteile aus dem Müll und fädelt einen goldenen Faden in eine goldene Nadel ein.
»Ich brauch ’ne Tasse Tee, die Welt brennt. Oje, was für ein Tag«, sagt Ereškigal lächelnd.
Die Schwarzdrossel singt, und sie gehen in den Schatten.
Der Mann spaziert durch den Park, in dessen Nähe er Mirkalla einmal begegnet ist. Kurz bevor sie getraut wurden. Er war schon damals verliebt, obwohl die Frau sich ein wenig verwirrend benahm. Dann geschahen irgendwelche schlechteren Sachen. Aber schließlich wurde alles gut! Er konnte Kalla sogar den niederträchtigen Augenraub verzeihen, der ihn aus seinem früheren Leben geworfen, ihn vom rechtswissenschaftlichen Institut als Koch in eine mittelmäßige Pizzeria gebracht hatte. Vielleicht war es die Vorsehung.
»Gib mal ne Mark.«
Der Mann blickt zur falschen Seite, nach rechts, und hört von links dasselbe: »Gib mal ne Mark.«
Die das fordert, ist eine Frau mittleren Alters. Langer Steppmantel, Bubikopf, bunte Mütze. »Gib mal ne Mark«, wiederholt sie.
Der Mann zieht die Geldbörse aus der Hosentasche und gibt der Frau einen Euro. Die Frau betrachtet die Münze. »Gib mir ’nen Schein.«
Er gibt ihr einen Fünfer. Die Frau betrachtet das Geld und fragt ihn nach seinem Namen.
»Anders«, antwortet der Mann.
»Gib mir mehr, Anders.«
»Nein.«
Er geht weg, doch die Frau folgt ihm mit ausgestreckter Hand und ruft seinen Namen. »Bist du ein guter Mensch, Anders? Gib Geld.«
Der Mann verdrückt sich im Laufschritt, doch die Mutti bleibt ihm auf den Fersen. Sie setzt ihm kilometerweit nach. Durch die Stadt. Aus der Stadt hinaus. Bis zum Ödland.
Der Mann entdeckt die Müllhalde. Sie ist von einem hohen Zaun
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