Die Hure: Roman (German Edition)
umgeben, über den wird die Alte nicht kommen. Er klettert über den Zaun und lässt sich auf die Müllsäcke fallen. Dann versteckt er sich vor der Bettlerin, kauert sich hinter ein mit getrocknetem Blut und Kotze bedecktes altes Sofa.
Die Frau läuft zum Zaun, rückt die Mütze gerade und wischt sich die feuchte Stirn. »Anders! Gib mir mehr!« Sie wartet einen Moment, dann wirft sie sich gegen den Zaun und rüttelt daran. Als sie damit nichts erreicht, beginnt sie den vor der Halde liegenden Abfall einzusammeln, um sich daraus eine Treppe zu bauen.
Der Mann begreift, dass er seine Verfolgerin nicht so leicht loswird. Lautlos macht er sich auf die Suche nach einem besseren Versteck.
In der Luft wimmelt es von Möwen. Ihre Schreie übertönen die Rufe der zurückbleibenden Schnorrerin. Vielleicht gibt es am anderen Ende der Müllhalde einen Ausgang.
Die Deponie ist viel größer, als er dachte. Es dämmert, und er sieht immer noch nur ungeheure Abfallhaufen, die teilweise wie Berge aufragen. Unter seinen Füßen knackt es: Die durchsichtigen Plastikpackungen wirken wie eine Eisschicht, die zwischen der Erde und seinen Schuhen knirscht.
Als es stockfinster wird, verschwinden die Möwen. Er ist jetzt ganz allein auf der Müllkippe. Wenn er nach unten blickt, scheint es, als würde der Erdboden sich bewegen. Rattenlegionen flitzen durch die Abfälle.
Er nimmt sein Handy als Lichtquelle und folgt den Ratten. Vielleicht führen sie ihn zum Ausgang oder wenigstens zu etwas einigermaßen Essbarem. Er merkt plötzlich, dass er sehr hungrig ist.
Die Ratten steuern auf einen immer schlimmer werdenden Gestank zu. Nur verdorbenes Essen kann so schlecht riechen.
Er hat seine Aufmerksamkeit auf die Tiere zu seinen Füßen konzentriert und merkt nicht, dass er beobachtet wird.
»Anders, Geld!!« Die Bettlerin hat ihn eingeholt und trippelt auf ihn zu mit ihren kurzen Beinen, die Hand ausgestreckt.
Dann geht alles sehr schnell. Etwas schwach Leuchtendes springt zwischen den schwarzen Müllsäcken hervor, stürzt sich auf die Bettlerin, reißt ihr den Kopf ab und trinkt das aus dem Hals sprudelnde Blut.
»Mirkalla!«, ruft der Mann, zitternd vor Entsetzen und Bewunderung.
Die weiße Frau blickt auf. Die schwarzen Haare durchschneiden die Luft und verspritzen Blut. Von Mirkallas zerfetzten Lippen rinnt eine dicke, dunkle Flüssigkeit, die wie eine zweite Schlange über ihren schönen Körper gleitet.
»Mirkalla!«
Die Frau zögert nicht. Sie rennt in die entgegengesetzte Richtung davon. Der Mann folgt ihr, doch Mirkalla ist viel schneller. Als die leuchtende Gestalt aus seinem Blickfeld verschwindet, folgt er ihren blutigen Fußspuren. Sie führen zum Tor der Mülldeponie.
Und vor dem Tor sieht er einen Baum, an dem Früchte hängen. Sie sehen ein wenig wie Äpfel aus, sind aber keine. Der Mann pflückt eine Frucht, spaltet und verschlingt sie. Die Kerne rutschen in seinen Magen. Und alle wissen ja, was passiert, wenn man Obstkerne verschluckt.
Als der Mann erwacht, ist seine Kehle rau. Ein Schnupfen im Anmarsch, verflixt. Oder vielleicht hat er sich auf der Müllkippe irgendwelche Bazillen eingefangen.
Auf der Müllkippe?
Pfui.
Er versucht wach zu werden. Noch befindet er sich in dem Zustand, wo man glaubt, wach zu sein, aber nur vom Aufwachen träumt. Allerdings verhält es sich in seinem Fall umgekehrt: Er ist wach, glaubt aber, noch zu schlafen.
Er hat Husten. Ihm ist übel. Irgendwelche Bazillen.
Ein unerträglicher Zustand. Er überlegt, ob er seine Mutter oder das Ärztezentrum anrufen soll. Er entscheidet sich für das Ärztezentrum.
MANN: Hallo, ich brauche einen Termin.
ANGESTELLTE: Wenn es eilig ist, kommen Sie morgen früh zum Bereitschaftsdienst.
MANN: Nein, nein, ich brauche sofort einen Termin.
ANGESTELLTE: Wir haben aber keinen.
MANN: Dann organisieren Sie einen.
ANGESTELLTE : Aber.
MANN: Ich muss jetzt sofort zum Arzt.
ANGESTELLTE: Na, zum Arzt können Sie jetzt wirklich nicht.
MANN: Dann zu einer Krankenschwester.
ANGESTELLTE: Na. Moment mal.
ANGESTELLTE (nach langer Unterbrechung): Die Krankenschwester hat in einer halben Stunde Mittagspause, kommen Sie her, dann nimmt sie Sie in der Pause dran.
MANN: Gut.
Die Krankenschwester ist eine müde Frau um die vierzig. Sie lächelt dem Mann zu. »Es stört Sie wohl nicht, wenn ich nebenbei eine Banane esse?«, fragt sie.
Der Mann überlegt kurz, sagt dann aber, dass es wohl in Ordnung geht. Die Frau fragt ihn nach den Symptomen und isst
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