Die Hure und der Henker
Lehrer Poliačik, dessen dunkler Bart echt war und nicht aus
ausgerissenem Schamhaar wie jener, den sich die Gräfin Bathory umband, bevor
sie den jungen Mädchen in die Geschlechtsteile biss; Poliačik, der sich sonst
noch nie etwas hatte zuschulden kommen lassen und dem die Hälfte des Saales
ihre Kenntnisse in Latein, Deutsch und Griechisch, in Mathematik, Geografie und
Geschichte, in den Überlieferungen unserer Gemeinde, in den Fragen und
Antworten unseres Katechismus verdankte: Was bist du – ein Geschöpf Gottes,
vernünftig und sterblich; Poliačik, der arme Lehrer Poliačik, ein
Geschöpf Gottes, vernünftig und sterblich, entschuldigte sich damals bei dem
dummen Kubik vor der ganzen Gemeinde.
Aber es half
der Ganzheit der Gemeinde nicht mehr.
Die Gemeinde
zerfiel.
Viele hatten
sich rasch über unsere hundertfünfzig Jahre alten Gemeinden eine neue Meinung
gebildet. Andere hatten keine, aber teilten jene der Mehrheit. Manche erklärten
bereits ihren Austritt. Frauen, die auf der Bleiche, am Brunnen, im Waschhaus
immer das große Wort geführt hatten, wollten auf einmal gar nichts geführt
haben. Überhaupt war niemand mehr führend gewesen. Alle waren nur mitgelaufen,
hatten mitlaufen müssen. Und jahrelang gelitten dabei. Unter unseren
Priestern gelitten, unter unserem Bischof gelitten, unter der Synode in Fulnek
gelitten. Männer, die sich früher einmal zum Vorbeten drängten, beteten bereits
der neuen Obrigkeit nach. Noch ehe das Edikt des Kaisers forderte, katholisch
zu werden oder außer Landes zu gehen, hatte die Mehrheit schon die Seite
gewechselt.
Nicht nur
damals auf dem Heimweg, auch später noch, als Stramberg schon dem Kardinal in
Mikulov unterstellt war, als aus Ivančice die Nachricht kam, Gundakar von
Liechtenstein habe die Schule der Brüder verboten, als wir aus Holešov hörten,
man habe das Bruderhaus den Jesuiten übergeben, haben wir noch von jener
Versammlung gesprochen.
»Eure Mutter«, sagte der
Vater, »hat recht. Es ging nicht um Poliačik und seine Gründe. Die Leute wollten ihm gar nicht vergeben. Weder ihm noch den Gemeindeältesten. Es ging auch
nicht um die Ohrfeige und die Vetternwirtschaft. Es ging darum, möglichst viele
Fehler zu finden. Sie brauchten die Fehler ihrer Autoritäten.«
»Aber warum denn, Vater?«
»Weil sie
damit vor sich eine Rechtfertigung hatten.«
»Für ihre
Abkehr?«
»Für ihren Austritt aus der
Gemeinde.«
3
Es war an einem Markttag, an
dem Valentin zu Judith ins Haus kam. Vyfken hatte es sich damals nicht nehmen
lassen, ihren Ziehsohn bis zu Heinischens Haus zu begleiten. Es war später
Nachmittag. Die ersten Bauern der umliegenden Dörfer und von ferner herkommende
Händler verließen Pritzwalk bereits, aber noch immer füllten Fuhrwerke aller
Art, Menschen, Viehzeug und Lasten die Straßen, waren Wirtshäuser und
Ausspannungen gefüllt und der Straßenlärm größer als sonst. Mühsam, einen Korb
in der Hand, den Valentin auch gut noch hätte allein tragen können, schob sich
Vyfken mit ihm durchs Gedränge.
»Guten Tag,
Trine Strehlen.«
»Dank dir,
Müllern.«
»Ja, Euch auch, Riemännin.«
Sie drehte
den Kopf nach rechts, bis ihre Halswirbel knackten, denn der hinkende Pankow
links, der sie vor Jahren um einen viertel Taler betrogen hatte, sollte merken,
dass sie ihn nicht sah. Sie balancierte hausnah an Stufen entlang und wand sich
zwischen langsamer Gehenden hindurch, immer sich vergewissernd, dass Valentin
noch hinter, vor oder neben ihr war, blieb plötzlich stehen, um ihm einen
verdrehten Gurt seiner Kiepe zu richten, und legte überhaupt Wert darauf, vor
aller Augen als seine Mutter zu gelten.
Sie, das
würde ihre Haltung auch wenig später vor Heinischens Haustür ausdrücken, sie,
Vyfken Kalkofen, hatte ihn nicht zur Welt gebracht, das nicht, aber ganz
unbeteiligt war sie daran auch nicht gewesen. Immerhin war sie es, die ihn als
Erste erblickte. Die als Erste seine ungewöhnliche Größe sah, ihn abnabelte,
badete, den roten Fleck an seiner Stirn mit der Nachgeburt bestrich, was das
sicherste Mittel war, dass er verschwand, die seine Finger und Zehen zählte,
meldete, dass ihm nichts fehle, er alles habe, was er brauche, und zwei
Haarwirbel am Hinterkopf auch noch, was besondere Klugheit versprach. Vom
Sternbild Skorpion wollte Gertrud damals nichts hören, das sei heidnisches
Wissen. Aber geglaubt hatte sie’s gern: Ihr Erstgebornes sei ein besonderes
Kind.
Ein bisschen
mitgeboren, das sollte
Weitere Kostenlose Bücher