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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
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jeder begreifen, der es mit ihr zu tun bekam, hatte sie
den jungen Mann neben sich schon, der in seiner schwarzen Kleidung und dem
kegelförmigen Hut mit der schmalen Krempe noch größer wirkte, als er ohnehin
war. Jetzt musste sie wieder vor ihm gehen, um einem von zwei Ziegen gezogenen
Karren mit Kohlköpfen Platz zu machen. Ihre eigenen Kinder hatten immer nur
wenige Tage gelebt, das letzte, ein Mädchen, sogar nur wenige Stunden, aber auf
Valentin, als er klein war, hatte sie oft aufgepasst, hatte ihn bei sich in der
Kate gehabt, auf dem Hof, an der Hand, war zigmal hinausgelaufen, um sich am
Zaun zu vergewissern, dass er nebenan, vor der Ziegelhütte, für die seine
Eltern die Miete gerade so aufbringen konnten, weil sie auf dem Hof einer
stinkenden Gerberei stand, dass er da immer noch spielte, in den gelben
Schleimpilzen stocherte, die auf den alten Bottichen blühten, an der
Abflussrinne Borkenstückchen von Eibenholz schwimmen ließ, am Gerberbaum stand
und den Gesellen zusah und jedenfalls nicht bei den Lohgruben hockte, nicht bei
den Eimern mit Beizkot, dass er dem Meister aus dem Weg ging und den Hof nicht
verließ, denn dahinter, rechts vom Tor, war das Ufer der Dömnitz.
    In der Breiten Straße mussten
Vyfken und Valentin einen Tafelwagen, auf dem sich ein Käfig voller
schnatternder Gänse befand, an sich vorbeilassen. Schöne Erinnerungen verbanden
sich für Vyfken mit dem kleinen Jungen, der Valentin gewesen war. Wie der
Dreijährige einmal selbstvergessen auf Vyfkens Hof tanzte, alles singend, was
sie und Gertrud und Barthel ihm beigebracht hatten, »Nun lob, mein Seel, den
Herrn« und »Schlaf, Kindchen, schlaf«, »Christ ist erstanden« und »So gehet es
itz in Dummhausen zu/da melkt man den Hofhund und sattelt die Kuh«, wonach er
sich langsamer drehte, überging zu einer bekannten Melodie, nur sang er nicht
»Ein’ feste Burg ist unser Gott«, sondern mit seinem betörend klaren Stimmchen
so laut er nur konnte: »Wenn Knecht und Magd beso-hoffen sind/und in dem Keller
lie-hi-hi-gen.« Gertrud und sie, die ihn vom Fenster aus beobachtet hatten,
sahen sich an. Von ihnen hatte er das jedenfalls nicht.
    Valentin
hatte den Vater mit vier und die Mutter mit fünf verloren. Sein Vater, der
lange Barthel, der im Winter Schneekehrer und im Sommer Ackerknecht war,
tauchte eines Abends nicht zur üblichen Zeit am Ende der Gasse Achter der Mauer
auf, das heißt dort, wo die Gasse, die als ein einseitig mit Schuppen,
Scheunen, Ställen, Buden, Katen bebauter Ring an der Innenseite der Stadtmauer
Pritzwalk umschloss, ihren Bogen nach Süden machte und wo Valentin ihn,
ungefähr da, wo auch die Tuchmacherstraße auf die Stadtmauer stieß, abends
immer als Erster sah. Er saß auf dem Feldstein am Tor. Er beschattete wie jeden
Abend mit der Hand seine Augen, aber keine Gruppe erschien. Keine Männer, die
Sensen und Rechen geschultert, standen schwatzend noch kurz an der Ecke. Die
Gasse mit Kuhlen, Furchen und Rinnen, Spuren der Asche, Holz und Lohe
liefernden Wagen lag still in der Sonne. Auch das Vieh hatten die Hirten der
Stadt schon gebracht. Zu Mahlers das Schwein, zu Tante Vyfken die beiden
Ziegen. Er war gespannt, was der Vater ihm diesmal mitbringen würde – wieder
einen schönen Stein? Er hatte schon viele! Ein Vogelei? Eine Häherfeder? Oder
wieder ein Tier? Einen dunklen, fast schwarzen Moorfrosch? Eine Maus, eine
Kröte, einen ganz besonderen Pilz?
    »Sieh mal, wie ein
Fliegenpilz, mit weißen Punkten, nur blaugrün, das ist ein Grünspanträuschling,
mein Junge.«
    »Sieh mal, eine Wechselkröte.
Sie hat grüne Flecken. Und sieh mal, was für schöne goldene Augen sie hat!«
    Die Mutter,
im Gegensatz zum Vater und ihm, hatte für schöne goldene Augen nichts übrig.
Die Mutter schreckte nachts neulich auf. »Barthel! Du hattest den Igel doch wieder
aussetzen wollen!«
    »Hab ich ja
auch. Er ist mir nachgelaufen.«
    Oder sie rief
aus der Vorratsecke: »Barthel, hier liegt eine Schlange im Steintopf. Sie ist
dir nachgelaufen, nehme ich an.«
    Die Mutter hatte was gegen
Tiere. Auch die Blindschleiche durfte bei ihnen nicht wohnen.
    An jenem
Abend aber, als Valentin wartete und wartete, gab es keine Blindschleiche,
keinen Igel und keinen metallen blau in der Sonne glänzenden Pilz. Es gab keine
Vogeleier, keinen Frosch, keine Kröte und keine Feldmaus mit Rückenstreifen.
Schon am Schrei des Jungen hatte Vyfken gehört, dass etwas nicht stimmte. Mit
nassen Händen war sie hinausgerannt und so,

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