Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
Vom Netzwerk:
schnell, in festem Ton, nicht ein einziges Mal
stockend, keinen Augenblick zögernd, »Der Tag nimmt ab/ach schönste Zier/Herr
Jesu Christ bleib du bei mir/Es will nun Abend werden/Lass doch dein
Licht/auslöschen nicht/bei uns allhier auf Erden«, in diesem Tempo etwa –, von
alldem, was der Pfarrherr ihr damals erzählte von Sprechtempo, Gedächtnis,
Talent und Merkfähigkeit, hatte Vyfken nicht einmal die Hälfte gehört.
    Sie hatte,
brennend vor Angst, dass die Obrigkeit etwas anderes verfügen könnte, nur
darauf gewartet, sagen zu können, was ihr am Herzen lag: dass sie den Jungen
haben, dass sie ihn zu sich nehmen würde, dass sie nicht wolle, dass er ins
Armenhaus komme.
    Der Pfarrherr
damals war ziemlich verblüfft.
    Armenhaus?
Daran sei doch auch gar nicht gedacht! Magister Heinisch, dem, wie gesagt, an
diesen neuen Satzungen zum Schulbesuch sehr gelegen sei, würde… Man brauche nur
ihre Zustimmung. Man könne ihr das Kind ja nicht gegen ihren Willen aufhalsen.
    Nur wenige
Wochen nach dem Unglück hatte sie dann im Rathaus die Urkunde unterschrieben.
    In einem getäfelten
Raum, an einem langen Tisch in der Mitte, der von vielen Stühlen mit hohen
Lehnen umgeben war, saßen Heinisch, der Pfarrherr und einer, den sie nicht
kannte. Ein Vierter, neben einem Schreibpult, verlas ihr ein Schriftstück. Für
so und so viel Gerste im Jahr, so und so viel Roggen und so und so viel
Groschen gebe der Rat der Stadt Pritzwalk ihr den nachgelassenen Sohn der im
Dienste des Rates verstorbenen Klein’schen in Pflege bis zu seiner
Volljährigkeit.
     
     
    Je näher
Vyfken und Valentin dem Stadtinnern kamen, desto mehr nahmen Lärm und Gedränge
zu. Auf dem Marktplatz hatte inzwischen endgültig das Abbauen der Stände
begonnen. Man fuchtelte mit Gestänge, fing Zeltbahnen auf, rollte Decken
zusammen, schraubte Buden auseinander. Man kehrte Abfälle zu Haufen und füllte,
was zu verfüttern war, in Kisten und Körbe. Den Rest schob man in die Mitte des
Platzes, wo ihn die Knechte des Marktmeisters später verbrannten. Dazu riefen
Männer- und Frauenstimmen durcheinander, gellten Kinderschreie, wieherten
Pferde, bellten Hunde, quiekten Schweine, klang Holz auf Holz und Eisen auf
Eisen. Hier bockte ein Esel. Da kamen zwei Wagen von Schaustellern schlecht
aneinander vorbei. Valentin und Vyfken bogen zwar gleich hinter dem Rathaus
nach links, aber auch dort hätte man zu diesem Zeitpunkt sein eigenes Wort
nicht verstehen können, was Valentin gut fand, er versuchte auch keins.
    »Ich ziehe
doch nicht fort, ich ziehe doch nur ein paar Straßen weiter«, hatte er Vyfken
am Morgen zu trösten versucht. Da blickte sie, am Tisch sitzend, plötzlich ins
Leere, hielt den Löffel vor den Mund, aber nahm ihn nicht. »Ich komm Euch auch
besuchen, so oft es geht.«
    Danach stand
ihr Mund keinen Augenblick still. Ob er das dünne Kamisol auch eingepackt habe.
Und was für ein niedliches Kind er gewesen sei. Ob er ihr noch einmal Holz
hereinhole. Aber er solle es nicht in den guten Sachen tun, denn was werde der
Magister Heinisch sonst denken, wenn sein schwarzes Wams mit Harz befleckt sei,
und ob er eigentlich wisse, dass er sich fast einmal in den Finger gehackt und
wie er damals in die Dömnitz gefallen und wie krank er war nach dem Tod Liese
Mahlers’.
    In die
Dömnitz gefallen war er damals nicht.
    Gestoßen
worden war er, was er ihr, wie so vieles, nicht sagte, denn die Ratsherren der
Stadt Pritzwalk hatten ihm zwar das Schulgeld erlassen, aber nicht auch den
Spott ihrer Söhne. Veiten Kleen/hädd Schiet am Been./Hädďn awleckt/hädd
em god smeckt. Er sagte ihr damals nicht, dass er der Einzige war, der
keine Stiefel besaß.
    Er sagte ihr
später auch nicht, dass ihn Liese Mahlers zu beschäftigen begann. Am Tage
lernte er lateinische und griechische Grammatik, paukte er lateinische und
griechische Vokabeln, las er lateinische und griechische Autoren. Abends hackte
er Holz, machte er Späne, damit sie es beim Anzünden leichter hatte, leimte er
die Bank für die Wassereimer, half er ihr Wäsche legen und Wolle wickeln und
lehrte sie das Gründungsjahr Roms. »753 vor Christus, Mutter Vyfken, das kannst
du dir ganz leicht merken: Sieben fünf drei/kroch Rom aus dem Ei.«
    Oder er
erzählte ihr, dass Joachim Kober schon wieder eine Tracht Prügel vom Rektor
bezogen hatte, weil er nicht nur ein Katapult mitgebracht hatte, sondern auch
den Accusativus singularis von »puella« nicht wusste. »Obwohl er jedem Mädchen
– puella

Weitere Kostenlose Bücher