Die Hure und der Henker
und
Weihnachtslieder spielte, sah sie sich unter den anderen um. Katharina Witte
dort neben dem blauen Ofen. Blond, hakennasig. Damals als Braut: »Na, mein Engel?
Du bist wieder kaputt, was?« Jetzt engelt sich’s wohl etwas zu viel, denn sie
hat häufig Migräne. Sabina Gartz. Andere Seite des Ofens, am Fenster. Langsam
und feierlich, wie sie alles erzählt, erzählte sie, wie sie, auch an einem
Weihnachtsabend, ihrem Mann ihre Schwangerschaft offenbarte: »Mein Mann musste
kotzen.«
Anna Schaum, so rotbackig wie
die Äpfel vor ihr auf dem Tisch, aber nur dann lustig, wenn ihr Sigismund nicht
anwesend war. Susanna Hecker. Die eine Kinderstimme bekam, wenn sie mit ihrem
Matze sprach. Und die immer sagte, dass Matze sagt. Matze sagt, die Kälte im
Mai habe dem Hopfen geschadet. Matze sagt, der Kurfürst werde seit seinem
Unfall in der Sänfte getragen. Und damals, als sie ihren Ersten herumgehen
ließ, durften alle Frauen das Kind nehmen, nur Benígna nicht, denn Matze sagt,
die sei immer so ungeschickt und lasse den Kleinen womöglich noch fallen.
Es traf sich gut, dass
Benígna das Clavichord gerade schloss. Sie kam zu dem Platz, den Judith ihr
frei gehalten hatte, zurück. »Mir tut der Arm weh. Würdest du Baltzer mal
halten?«
Benígna strahlte. Und hielt
ihn dabei wie ein Dreipfundbrot. Und sagte dann, sie, ihre Freundin Benígna,
die sonst alles wusste: »Also ich weiß nicht…«
»Was weißt du
nicht?«
»Entweder war
das eben ein Pup oder…«
Judith nahm
ihr den Sohn wieder ab und beroch ihn. Es war kein Pup. Es war oder.
»Komm mit«,
sagte sie. Und bot nach einer Weile im Nebenraum Benígna die frische Windel
nebst gesäubertem Kind an. »Willst du ihn wickeln?« Worauf Benígna
feuchte Augen bekam.
Es ging alles
seinen Gang. Morgens, mittags, abends. Jenne in der Küche, Elsbeth in der
Küche. Pritzwalker Biersuppe. Schlesische Mohnklöße. Am ersten Weihnachtstag
Kobers Eltern zu Gast. Am zweiten zu den Großeltern Chemnitz. Dort nahmen ihnen
Diener die Pelze ab und die Große Stube im ersten Stock war schon warm von
Punsch und Gespräch.
Meine Güte, wie viel waren’s
denn diesmal! Henning und seine Frau, der Miles, Onkel Johannes mit Frau und
Töchtern, Onkel Joachim, der eigentlich schon ihr Großonkel war. Sabellus und
Nikolaus mit Frauen und Kindern. Auch der andere Onkel Joachim, der
Kammergerichtsrat aus Berlin. Man saß um den großen Tisch herum, neben dem Ofen
und an den Wänden entlang, rückte am Tisch aber zusammen und ein Diener brachte
noch Stühle, damit Judith und Kober, obwohl sie beteuerten, satt zu sein, noch
dies kosten und das probieren konnten, und Tante Rosina empfahl besonders den
Schinken. Onkel Johannes räusperte sich.
Rosina duckte
sich schnell auf ihren Stuhl zurück, denn wer auch immer soeben die
Unvorsichtigkeit begangen hatte, ihren Eheherrn auf die Historie zu bringen –
er wurde wütend, wenn man ihn unterbrach.
Alle, alle in
dem großen, von vielen Kerzen erhellten Raum, auch Kober, der klagend »Nicht
schon wieder!« flüsterte, hatten die Geschichte von den Chemnitzen schon x-mal
gehört. Dass sie den Hinterpommer’schen Wenden entsprossen. Dass sie zu den
ältesten adeligen Geschlechtern in Hinterpommern gehörten. Dass sie ihren Namen
von dem wendischen »Kamienec« hatten. Und Judith stieß Kober unter dem Tisch
vorsichtig an. »Hier, iss!« Sie schob ihm den Schinken zu, während alle es
hätten mitsprechen können, dass »Kamienec« von dem wendischen Wort für Stein
kommt, »kamen«, und dass so die Stammburg der Chemnitze hieß. »Sie war«, sagte
der Onkel und lehnte sich, die altersfleckigen Hände auf den Armlehnen, zurück,
»am Meeresufer gelegen. Später, als sich die Familie verzweigte, hausten die
Chemnitze teils auf dem Lande, teils in Städten…«
»… und als die Kreuzritter Pommern
mit Krieg anfassten…«, flüsterte Benígna, die wieder neben Judith saß und einen
Pfefferkuchen nach dem anderen aß.
»… und als die Kreuzritter
Pommern mit Krieg anfassten«, fuhr der alte Onkel fort, »schürten sie die
Unruhe und den Streit zwischen Msciwin und Wratislav, den Söhnen Svatopluks des
Großen, und die von Kamienec hielten es damals mit Wratislav, dem Jüngeren der
beiden. Aber Wratislav verlor den Streit um Danzig, sein Erbteil.«
»So mussten sie außer
Landes«, flüsterte Benígna.
»So mussten sie
außer Landes«, sagte der Onkel. »Und so sind sie denn hierher nach Pritzwalk
gekommen, wo sie ihren Adel
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