Die Hure und der Henker
sicher noch einmal besessen, denn das Einbehaltene sei eine
Reinschrift.
Verloren ist ein’ Sach’ erst,
wenn wir sie beenden. Doch halten wir sie aus und halten wir fein still, So
kann des Höchsten Hand, wenn es der Höchste will, Auch Fall verkehr’n in Flug
und unser Unglück wenden.
So sagen wir
uns zu: Wir kommen ja noch auf. Geduld ist unser Schwert und Glaube unser
Schild. Wir sehen unsre Not in süßem Traum gestillt, Bis Phöbus für uns führt
den Tag des Siegs herauf.
Valentin
erkannte seine Verse sofort. Er hatte sie an dem Tage geschrieben, an dem sein
Traum, Magister, gar Doktor zu werden, zerplatzt war. Am nächsten Morgen hatte
er dann die Reinschrift gesucht und nicht mehr gefunden und es aus Kritzeleien
und Durchstrichenem erneut abgeschrieben. Um sich abzulenken. Um sich zu
trösten.
Er habe dieses Gedicht,
schrieb Mespelbrunn, beim Fürstentag in Mühlhausen, wohin er seinen Vater
begleiten musste, dem Hessischen Oberhofmarschall, Dichter und Übersetzer
Diederich von dem Werder, gezeigt. Valentin kenne ihn sicher. Falls nicht:
Widerhall in der literarischen Welt finde zurzeit sein Gedichtband
»Siebenunddreißig Gebete über das große Geheimnis des Selbsttrugs«.
»Er wünscht«, las Valentin,
»dass du ihm noch Etliches mehr von dir schickst.« Er las es noch einmal, trat,
den Brief in der Hand, ans Fenster und sah auf die Straße hinaus. Nachbar
Wordenhoff sprach dort mit dem rothaarigen Simon, wobei sie dauernd zwei dünne
Eisenstangen miteinander verglichen. Vor rennenden Kindern stoben die Spatzen
von den Pferdeäpfeln auf, die sie nach Haferkörnern durchsuchten. Der lahmende,
taubstumme Hektor, der bei den Beginen die Stelle eines Hausknechts versah,
stellte die beiden Eimer, mit denen er vom Brunnen kam, ab, um mit Diso, der
auf ihn zu gesaust war und nun schwanzwedelnd an ihm emporsprang, zu spielen.
Valentin sah wieder auf
Mespelbrunns Brief.
»Er wünscht«,
las er noch einmal – und dann noch einmal und dann noch einmal –, »er wünscht,
dass du ihm noch Etliches mehr von dir schickst.« Grüße, Segenswunsch,
Unterschrift.
C. R. Echter
v. Mespelbrunn.
Dazu eine Anschrift:
Oberhofmarschall und Geheimer Rat, Diederich von dem Werder, Reinsdorf bei
Köthen.
Nach dem Abendessen, bei dem
Jenne, die mit dem Auftragen an der Reihe war und ein aus der Küche
verschwundenes Stück kalter Entenleber beklagte, und sie wolle ja niemanden
beschuldigen, aber außer ihr hätten nur noch Ulla und Simon die Küche betreten,
»Nein, auch ich, das Stück habe ich mir geholt«, sagte Judith nach dem Bier
hinterher, zu dem Kober ihn einlud und bei dem sie noch einmal die wandernde
Wäsche besprachen, »du hattest doch damals eine Idee, Klein, weißt du noch? Als
die Leitern vertauscht worden waren, erinnerst du dich?« – »Dass der Spitzbube
immer in unserer Gegend anfängt? Im Osten der Stadt?« – »Genau! Ja, Mensch,
genau!«, nach dem Bier mit Kober, dem Rätseln mit Kober, der genauen Verfolgung
des Weges, den Leitern, Hunde und Wäschestücke bisher mit nur geringen
Abweichungen immer zurückgelegt hatten, denn die Hosen von Kurt Niedergesäß
hingen eines Morgens auf der Leine von Barbara Wordenhoff, Barbara Wordenhoffs
Laken dagegen flatterte auf dem Hofe bei Kunows, Kunows Windeln bei den alten,
leibesgebrechlichen Gartzens, die Socken des alten, hinfälligen Gartz bei der
rüstigen Witwe von Rembken… nach dem Stirnrunzeln Kobers über Rembkens rüstige
Witwe und seiner Freude, als Valentin auf das Dreieck hinwies, gebildet aus
ihrem Haus, dem von Niedergesäß und dem von Wordenhoffs, in welchem auf jeden
Fall immer der Anfang des Schabernacks lag, nachdem Kober sich bei Valentin
bedankte, »Gute Nacht, Klein, vielen Dank, da hab ich der Kommission morgen
doch wenigstens etwas zu sagen«, stand Valentin in seiner Stube am Fenster.
Er sah lange
in den Abend hinaus. In den dunkelblauen Himmel über der Krone des Nussbaums.
Über das Dach des Pferdestalles und die noch kahlen Obstbäume im Garten
dahinter hinweg. Über die Krone der Stadtmauer, die Wiesen, die Schatten hinaus
in die Weite.
Er dachte wieder an
Mespelbrunns Brief. An ein Erlebnis, das er auf seiner traurigen Rückreise von
Leipzig gehabt hatte, wo er in einem Gasthaus bei Erkner ein kümmerliches Mal
zu sich genommen hatte und plötzlich Bewaffnete hereingestürzt waren – zu einem
Mann, der, in einen schwarzen Mantel gehüllt, in der Ecke gesessen hatte. »Ihr
seid ein Rosenkreuzer«, hatte
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