Die Hure und der Henker
Übersiedlung nach Leszno in Polen ermöglichen, sagte unsere Mutter,
Leszno, wo es schon eine Brüdergemeinde gab. Es würde für Juras Meisterbrief
reichen, für eine eigene Werkstatt und auch noch für eine Mitgift für mich.
Ihre Stricknadeln klapperten langsamer. Sie sah auf die Wiesen und die Elbe
hinaus. »Und wenn ich sparsam bin«, sagte sie, »reicht es sogar noch für mich.«
Statt auf
dieses »sogar« zu achten, war ich damals verstimmt, wenn sie Pläne machten, die
Mutter und Jura, abends immer, wenn er aus der Druckerei zurückgekommen war,
wir gegessen hatten und noch ein wenig beim Kerzenlicht saßen. Wie sie sich in
Leszno einrichten würden. Was für einen Kundenkreis sie aufbauen wollten. Wie
das Schild über Juras Werkstatt aussehen müsste. Sogar, wo die blauen Tassen
hängen sollten, wusste die Mutter, und sie hatten schon alles geregelt, es fehlte
nur noch eines: das Geld.
Wir waren
damals nicht die Einzigen, die auf Briefe an ihre Treuhänder keine Antwort
bekamen. Viele hatten es schwer, an ihr Vermögen zu kommen. Anwälte, Behörden,
Schreiber – alle verdienten an uns, und wir, die wir keine Miete mehr zahlen
konnten, verdienten die Verachtung der Pirnaer. »Wir sind zweitausend«, sagte
mein Bruder. »Die Pirnaer sind doppelt so viele. Man muss sich nicht wundern,
dass sie gereizt sind.«
Frauen wie
Judith waren damals immer ganz besonders gereizt. Sie sahen auf
Universitätsprofessoren herab, die sich von Nachhilfestunden ernährten, auf
Musiker, die einmal an Fürstenhöfen gespielt hatten und nun, den Hut auf der
Erde, an Straßenecken aufspielten, auf Pastoren, die betteln gehen mussten.
Nein, um Judith
ging es mir nicht. Im Gegenteil! Gestern Abend rechnete ich meinem Lebenswillen
hoch an, nicht nur mährische Not und sächsisches Elend, nicht nur Quedlinburg
und die Jahre im Hurenzelt, sondern auch die Begegnung mit deutschen Hausfrauen
überlebt zu haben!
Gestern Abend
habe ich Judith noch in einen Topf geworfen mit jenen, die damals staunend in
unseren Stuben standen: »Aber schön sauber hier!« Die kein Wort Tschechisch
sprachen, aber amüsiert unseren Akzent nachahmten. Die uns immer wieder daran
erinnerten, wohin wir geraten waren: »Ihr seid hier nicht in Böhmen!« Die an
uns Wohltaten verübten in Form von abgetragenen Röcken, die sie uns zukommen
ließen, oder zerbrochenem Hausgerät, das sie uns schenkten.
»Für mich
sind die Böhmen auch Menschen.«
»Selbstverständlichkeiten,
die betont werden, sind keine, Frau Siebenburg.«
Die
Siebenburg sah mich an, als hätte ich mit ihr Tschechisch gesprochen.
Jura hatte
damals gut reden. Er ging früh aus dem Haus. Ich sah ihn an der Mauer mit den
überhängenden Rosen entlanggehen und an der Ecke Richtung Schifftor mein
Blickfeld verlassen. Er klapperte ja nicht Tag für Tag mit fünf Nadeln und sah
die Sommerwelt meist nur durchs Fenster. Er hörte ja auch nicht wieder und
wieder die Klagen unserer Mutter, sah sie ja nicht immer häufiger weinen.
Einmal weinte
auch ich. Als ich meinen Bruder über die tschechischen Lettern streichen sah,
die wir bis nach Sachsen mitgeschleppt hatten. Als ich sah, wie er das »a« und
das »á« aus dem Setzkasten nahm, sie zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte,
drehte, betrachtete, so als müsse er sich vergewissern, dass das »a« ohne
Strich noch immer das kurze »a« war und das »á« mit dem Strich noch immer das
lange.
Am Ende des
ersten Jahres in der Fremde war auch mein Bruder nicht mehr der Alte. Plötzlich
wollte er mit seinen einundzwanzig Jahren mehr erwachsen sein als ich mit
zwanzig. Dies sollte ich so machen, jenes so. Bei dem empfehle er mir und dazu
rate er mir. Ja, er steigerte die Ratschläge, die er mir gab und die ich
immerhin manchmal auch annahm, plötzlich sogar zu Aufgaben: »Meine Aufgabe für
dich: Mach es dir zur Gewohnheit…«
Ich machte es
mir zur Gewohnheit, mich auch vor ihm zu verschließen. Wenn ich etwas
herausließ, dann nur meinen Zorn. »Und du verteidigst diese Deutschen auch
noch!« Ich stellte ihm den Teller hin mit mehr Wucht als nötig.
»Na weißt du,
Sorka, Jan Hus hat geschrieben…«
»Danke, ich
weiß, was Jan Hus geschrieben hat.«
Das hielt ihn
nicht davon ab, es mir, während ich ihm die Suppe auffüllte, trotzdem zu sagen.
»Jan Hus hat geschrieben,
dass unserem himmlischen Vater ein guter Deutscher lieber ist als ein böser
tschechischer Bruder.«
»Da bin ich aber froh. Dann
zieht er dir die guten
Weitere Kostenlose Bücher