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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
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Mutter! Jura! Kommt! Was uns zusteht, können
wir auch vom Gericht klären lassen.«
    Ich habe das Lächeln nicht
vergessen, mit dem uns die Landwehr damals entließ: Der Versuch, unser Geld
einzuklagen, war nur für den sächsischen Anwalt einträglich.
    Ich habe gelernt, auf Lächeln
und Blicke zu achten. Auf Betonungen und Auslassungen. Darauf, ob jemand nur
dann freundlich war, wenn er mit mir allein war, wie Herr Siebenburg, wenn ich
die Miete brachte, oder ob er mich auch noch kannte, wenn die Stadträte dabei
waren. Ich habe gelernt, nicht nur auf das zu achten, was die Leute mir sagten,
sondern mehr noch auf das, was sie mir nicht sagten. Ich habe sie
beobachtet. Ich habe immer häufiger ihr Verhalten voraussagen und auch meinem
Bruder damals schon sagen können, wie die Sache mit dem Wappenbuch ausgehen
würde, einem Einfall, auf den er sehr stolz war.
    »Etwas, das der Gemeinde
nützt«, sagte er. »Ein Buch«, schlug er vor, und zwar dem Pastor Martinius nur
wenige Wochen, nachdem dieser die tschechische Druckerei gekauft hatte. »Ein
Buch, in das jede Familie ihr Wappen malen lässt und dafür bezahlt. Zuerst die
Adelswappen, dann die Bürgerwappen. Die Leute, die kein Wappen führen,
unterschreiben wenigstens mit ihrem Namen und zahlen entsprechend weniger für
ihren Eintrag. Den Mittellosen werden die Kosten erlassen und der Erlös des
Ganzen kommt ihnen zugute. Stellen wir dem Buch noch ein Kapitel über die
Gemeinde voran, in dem beschrieben wird, wie sie zustande kam, so schaffen wir
ein Dokument über den Aufenthalt der Böhmen in Pirna, für das unsere Nachkommen
uns sicher einmal dankbar sein werden.«
    Der Vorschlag
war gut. Er wurde angenommen. Martinius höchstpersönlich nahm ihn als sein
Geisteskind an. In einem Festgottesdienst wurde das Buch in feierlicher
Prozession von ihm und dem Gemeinderat nach vorn getragen, gesegnet und vor dem
Hochaltar zum Unterschreiben auf rotem Samt ausgelegt. Hofprediger Hoě von
Hoěnegg war eigens aus Dresden herübergekommen, um Martinius von der
Kanzel herab für seine wunderbare Initiative zu loben. Wie viel Geschichtsbewusstsein
er zeige! Wie er der helfenden Güte voll sei! Ein guter Hirte für seine Schafe!
    Und Jura, das Schaf, saß
fassungslos hinten. Es war seine Idee. Und er saß in der drittletzten Reihe.
Sah, dass alles so gekommen war, wie ich es ihm gesagt hatte, und sah aus, als
wolle er »Mama!« rufen, aber da war unsere Mutter schon tot.
    Von dem Tag bei Frau Landwehr
hatte sie sich nie mehr erholt. In den Monaten danach wurde sie kränker und
kränker, ohne dass Dr. Doncanus, Doktor der Medizin und der Philosophie, der in
Prag an der Universität gelehrt und den König und seinen Hofstaat behandelt
hatte, nun aber mit einem gekochten Ei als Honorar für eine Untersuchung
zufrieden war, etwas fand. Er empfahl frische Luft, viel Bewegung, aß sein
Honorar auch gleich auf, ob ich noch ein bisschen Salz zum Ei hätte, und wenn
ich wolle, komme er Sonnabend wieder.
    Die Mutter weinte viel und
begann zu vergessen. Bald wusste sie nicht mehr, wohin die Teller gehörten und
wie man Feuer im Herd machte. Dabei wurde sie immer weniger. Eines Tages, als
ich Juras Mantel anhatte, denn meiner hing auf der Leine, sprach mich die
Siebenburg an: »Ihr geht schwarz, Jungfer Sorka? Ist was mit Mutti?«
    »Nein, ich
muss Euch enttäuschen. Meine Mutter lebt noch.«
    Aber bald
lebte sie nicht mehr. Wir waren allein.
    »Komm mit«,
sagte Jura. Er hatte Pirna, die Deutschen, die Druckerei und Martinius satt, so
satt! »Komm mit. Die Sachsen sind siegreich. Sie haben Prag schon
zurückerobert. So viele von uns gehen zurück. Wir auch, Sorka. Lass uns
zurückgehen.«
    Er redete damals tagelang auf
mich ein.
    Woher ich die Überzeugung
nahm, das werde nicht gut gehen, weiß ich nicht, doch sollte ich recht
behalten: Prag blieb nicht in sächsischer Hand.
    Lieber gewesen wäre mir, nicht recht gehabt zu haben und dafür meinen Bruder noch. Nicht recht
gehabt zu haben gestern Abend und dafür Valentin noch.
    Sie haben beide nicht gehört,
Jura damals nicht und Valentin gestern nicht. Als ich sagte: »Geh nicht!«

 
    14
     
     
     
    Ich weiß nicht, ob sich
Valentin und Judith gestern Abend noch getroffen haben. Die Soldaten, das Kind,
das Feuer – es ging alles so schnell.
    Ich weiß nur,
dass fast zwanzig Jahre seit ihrer Liebschaft vergangen sind. Seit jenem
Sommer, in dem Valentin ihre Hände angeblich nicht sehen konnte, ohne sie
gleichzeitig auch an sich zu

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