Die Hure und der Henker
und
bot uns Konfekt an. Süßes kauend, betrachtete ich die bis zur Erde reichenden
Fenster, die Leuchter und Spiegel dazwischen, die Türen mit den geschnitzten
Supraporten, die an die Decke gemalte Fortuna, die über uns ihr Füllhorn
ausschüttete. Dann kam der Diener noch einmal. Noch einen Augenblick, bitte.
Man werde gleich Zeit für uns haben.
Bloß Zeit? Wir wollten doch
unser Geld!
Da war ich schon, im
Gegensatz zu Mutter und Jura, auf eine Überraschung gefasst. War es die? Dass
wir nicht einem Mann, sondern einer Frau gegenübersaßen?
»Tja…« Sie seufzte. Tja,
leider müssten wir mit ihr vorliebnehmen. Sie führe die Geschäfte für ihren
unmündigen Sohn. Ihr seliger Mann sei im vorigen Jahr durch den Tod ihren Armen
entrissen worden.
Das glaubte ich ihr sofort.
Dass der Mann selig war, ihren Armen entrissen worden zu sein.
»Gut«, sagte sie, »kommen wir
zur Sache. Es geht um das Depot auf den Namen Jeroným Nezval, richtig?«
»Ja.«
»Und das seid
also Ihr.«
»Nein, ich
bin Jura Nezval, sein Sohn.«
»Ach so, ja,
dann darf ich Euch um die Vollmacht bitten.«
Dass sie so lange gebraucht hatte,
unsere Briefe zu beantworten, weil sie erst Erkundigungen über uns einziehen
ließ, wussten wir damals noch nicht; aber dass sie sich verstellte, wussten wir
nun. Jura war viel zu jung, um in den Jahren nach 1620 schon irgendwelche
Gelder ins Ausland transferiert haben zu können.
»Eine
Vollmacht?«
Nun, wenn das
Familienoberhaupt verhindert sei, habe es uns doch gewiss eine Vollmacht
gegeben.
Unsere
Mutter, deren Augen sich schon bei der Erwähnung des Vaters mit Tränen gefüllt
hatten, begann mit bebender Stimme zu reden. Sie erzählte unser ganzes
Schicksal, vom Zerfall unserer Gemeinde in Mähren über deren Verbot bis zur
Flucht, von der Kralitzer Bibel über die Verhaftung des Vaters bis zu unserem
knappen Entkommen und wie wir trotz allen Befragens der Neuankömmlinge in
Pirna, trotz der vielen Briefe, die wir in die Heimat mitgaben, trotz der
Gesuche und Anfragen an die kaiserlichen Behörden nie eine Auskunft über das
Schicksal unseres Vaters bekamen. Und dass sie, Frau Landwehr, doch verstehen
können müsse, dass jemand in plötzlicher Todesgefahr keine Vollmachten
schreibe.
Die Mutter bat. Sie
schmeichelte. Sie flehte. Sie zeigte damals vor der Landwehr zum ersten Mal
jenes Demutsgebaren, das sich später an ihr noch verstärkte und diese
Hausfrauen zu Gemeinheiten geradezu einlud.
»Es tut mir
leid, aber ich kann das Geld nur Eurem Mann persönlich aushändigen, außer Ihr
bringt mir eine Vollmacht von ihm oder einen Totenschein.«
»Aber…«
»Gute Frau!
Ich verstehe Euch doch! Nur sind mir die Hände gebunden, begreift doch!
Eigentlich hätte ich Euch schon der kurfürstlichen Kammer melden müssen. Denn
Ihr habt für das hinterlegte Vermögen noch keine Steuern gezahlt. Begreift
doch. Ich gehe ohnehin schon wegen Euch ein Risiko ein.«
»Und wenn Ihr
uns einen Teilbetrag auszahlt?«, fragte Jura. Ich tätschelte unserer lautlos
weinenden Mutter den Rücken.
»Nein, tut mir leid. Ich muss
mich an das Schriftliche halten. Das Haus Landwehr ist nur Herrn Jeroným Nezval
verpflichtet.«
Der
Papierbogen, den sie bis dahin in den Händen gehalten hatte und dessen
handschriftliche Kopie durch unseren Vater, die wir ihr vorlegten, sie nicht
gelten lassen wollte, »Hier steht nur, dass er so und so viel deponiert hat,
nicht, dass ich das an Euch auszahlen soll«, rollte sich auf der Tischplatte
wieder zusammen. Sie faltete die Hände, stützte die Ellenbogen auf und beugte
sich vor. »Es kann doch durchaus sein, dass er eines Tages hier auch vor mir
sitzt und sein Geld will« – unsere Mutter heulte laut auf – »und die
Teilauszahlung an Euch nicht in seinem Sinne war, und was dann?«
»Ich kann
Euch versichern, es wäre in seinem Sinne.«
Sie beachtete mich nicht.
»Ich mach
Euch einen Vorschlag. Wisst Ihr, wenn man hier sitzt… Man hat mit so vielen
Menschen zu tun… Ich habe doch auch ein Herz, ich sehe doch, was los ist. Wie
wäre es mit einem Darlehen? Ich gebe Euch die Summe, die Ihr braucht, zu
Zinsen, über die wir uns dann noch einigen müssten, und für eine Laufzeit, na,
sagen wir von zehn Jahren? Ihr, junger Mann, seid doch tüchtig. Das habt Ihr
doch, wenn Ihr Euch auf eigene Füße stellen könnt, schon nach dem fünften Jahr
abgezahlt! Damit wäre Euch doch sicher geholfen.«
»Nein, Jura!« Ich sprang auf.
»Für wie dumm haltet Ihr uns? –
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