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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
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ausschweifenden Erinnerungen an Schlesien schwelgte, den Schmiedeturm
in Goldberg, den Ring in Goldberg, die Kirche in Goldberg und dann auch noch
die Pest in Goldberg, von der, als Elsbeth zehn Jahre alt war, alle Einwohner
dahingerafft worden seien, nur ihre Mutter, ihre Schwester und noch vier andere
Leute hätten damals die Pest überlebt, und dann begann sie, das Überleben zu
schildern, wie sie damals alle sieben am Heiligen Abend im Schnee… und
Valentin, dem eine andere Art Abend vorschwebte, wünschte Elsbeth samt ihrer
Geschichte die Pest an den Hals, aber Judith zwinkerte ihm zu und schenkte
Elsbeth fleißig nach. Am nächsten Tag, nachdem sie Elsbeth gemeinsam aufs Bett
gelegt hatten, wo Judith ihr, während Elsbeth vom Sommer sang, »Summer, Summer,
Summer/iech bin a kleener Pummer/iech bin a kleener Keenich/gat mer nich zu
wenig«, dann doch das Gefühl hatte, ihr zu viel gegeben zu haben, und Valentin
ihr die Schuhe auszog und Judith sie zudeckte und sie dann leise die Tür hinter
sich schlossen, am nächsten Tag, als sich dein Atem gerade wieder beruhigt
hatte, missverstandest du Valentins Bewegung. Er habe dich damals nur in den
Arm nehmen wollen, sagte er mir – viele Jahre später. Aber du missverstandest
ihn, lächeltest und fragtest gefasst und ergeben: »Noch?«
     
     
    Nein, ihr
saht und hörtet damals nichts außer euch. Ende März wurden für das Federvieh
die Nester zum Brüten vorbereitet. Die Fenster der Schulstube standen zur
Mittagszeit offen und Valentin lehrte die Jüngsten die Namen der Sonntage vor
Ostern.
    »Merkt euch
den Satz In Richters Ofen liegen junge Palmen, Die Anfangsbuchstaben
seiner Wörter sind auch die der lateinischen Namen. Also wie heißen die
Sonntage vor Ostern? Andreas?«
    »Invokavit,
Reminiscere, Lätare…«
    »Einen hast
du vergessen.«
    »Reminiscere, Okuli, Lätare…«
    Judith,
dachte Valentin und hörte sich dabei zu dem Schüler Andreas laut »Judica«
sagen.
    »… Palmarum.«
    Am Sonntag Palmarum besuchte
er Vyfken. Auch am zweiten Ostertag, an dem er schon in der Breiten Straße die
ambossförmige Wolke im Nordwesten entdeckte. Im Gang zur Tuchmacherstraße hörte
er das erste Grummeln. In der Gasse Achter der Mauer schlug der Wind eine Luke
zu, klapperte mit Zaunlatten und brachte die in der Gerberei aufgehängten Häute
zum Schaukeln.
    Er hatte die
Tür von Vyfkens Kate gerade hinter sich geschlossen, als das Gewitter losbrach.
Vyfken deckte Nadeln und Schere zu, weil die den Blitz anzogen, machte Stullen
und legte ihre Geburtsurkunde und ihr Erspartes zurecht. Und auf jeden Fall
wäre auch Trine Strehlen damals besser beraten gewesen, vorsichtig zu sein,
nicht bloß, weil der Blitz treffen und es brennen kann und man flüchten muss,
sondern weil noch Schlimmeres aufkommen kann als ein Feuer. Als ein Lauffeuer.
Ein Gerücht.
    Trine
Strehlen stand an jenem Tag in der Menge, die zu dem großen Loch im Kirchturm
emporsah. »Und das Dach ist auch beschädigt«, stellte jemand fest.
    »Und der
Draht, mit dem man die Uhren aufzieht, ist geschmolzen«, sagte der Küster.
    »Damals waren es die
Glocken«, sagte Trine Strehlen und redete sich nicht um Kopf und Kragen, denn
man würde sie nicht enthaupten, man würde sie auf dem Richtplatz verbrennen.
    »Was waren
die Glocken?«
    »Geschmolzen. 1598. Das war
auch im April. Da schlug das Wetter auch in den Kirchturm, aber damals ist
nicht der Uhrendraht geschmolzen, sondern die Glocken.«
    Man hörte ihr
zu und Trine Strehlen war stolz auf ihr gutes Gedächtnis. »Damals ist auch die
Orgel verbrannt. Und auch 1572 wurde der Turm vom Blitz getroffen. Am 17.
April, das ist mein Geburtstag. Na ja, damals war ich noch jung und hübsch,
jetzt bin ich nur noch hübsch.«
    Trine Strehlen nannte Datum
auf Datum, stolz auf ihr gutes Gedächtnis. Und rechnete nicht mit einem bösen
Gedächtnis, das sich alles, was Trine sagte und wer das noch alles hörte, gut
merkte.
    Der Mai kam,
der Juni. Du versuchtest die Warzen an Valentins Händen zu heilen. Die waren so
plötzlich gekommen, dass du stauntest, und er musste dir auf dem Trappenberg
eine Heuschrecke fangen. »Die hier.« Du zeigtest ihm die Abbildung in einem
Arzneibuch. »Sie ist sehr bösartig. Seht Euch vor.«
    »Ist sie das?« – Er brachte
dir eine Heuschrecke von beträchtlicher Größe.
    Ihr holtet das Buch, verglichet.
Sie war es. Er wandte den Kopf ab, als der Warzenbeißer zubiss und braunen Saft
spie.
    »Ihr müsst
hinsehen. Heilen kann nur, was man

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