Die Hure und der Henker
Deutschen ja vor!«
»Kinder, streitet euch nicht.
– Da! Seht mal!«
Ich hatte mich
schon gewundert, warum die Mutter vom Tisch noch einmal aufstand. Sie war zu
ihrem Wollkorb gegangen und kam mit einem Brief zurück. »Von Leopold Landwehr!
Er bittet uns nach Dresden!«
Auch von dem Brief durfte ich
also nicht eher als mein Bruder erfahren. Der Brief musste am Vormittag
gekommen sein, als ich auf dem Markt war.
»Alle sollen wir kommen?«
»Aus
rechtlichen Gründen, steht hier.«
Die
Schwierigkeiten, die Jura hatte, für jene Reise beurlaubt zu werden, waren
groß. Die der Mutter, das nötige Reisegeld zusammenzukratzen, noch größer. Und
übertroffen wurden sie, fand ich, von denen, in die mich Frau Siebenburg
brachte, die just in dem Augenblick im Kontor ihres Mannes erschien, als ich
ihn um Hilfe ersuchte.
Die
Siebenburgs waren unsere Vermieter. Sie besaßen mehrere Häuser, dazu das
Fuhrgeschäft, in dessen Kontor ich stand, als sie kam. Ihr Mann, von dem sie
sicher nicht wusste, mit welchen Blicken er mich ab und zu auszog und welche
seiner Anspielungen ich lieber nicht zu verstehen vorzog, residierte in einem
Raum von beträchtlicher Größe. Schreiber saßen an Tischen. Boten kamen und
gingen. Papierrollen füllten Regale. Und die Siebenburg, auch eine von diesen
deutschen Hausfrauen, diesen Muttis, diesen Tanten, dieser Kombination von
Stolz und Beschränkung, der es sogar gelang, im Sitzen zu tanzen – was sie
schunkeln nannten! –, hatte die letzten Worte meiner Bitte an ihren Mann noch
gehört.
Dass wir dann und dann in
Dresden sein sollten. Dass wir dazu einen Wagen brauchten. Dass wir für das
Verleihen natürlich bezahlten.
»Ich verstehe solche Leute
nicht, die Termine machen und nicht wissen, wie sie hinkommen sollen.«
Mein Bruder, als ich es zu
Hause erzählte, fand nicht so schlimm, was die Siebenburg gesagt hatte.
»Reg dich doch nicht über
solche Kleinigkeiten auf!«
Als könnten
sich nicht auch Kleinigkeiten zu Lasten summieren.
Dass die
Fahrt nach Dresden das Leben unserer Mutter verkürzte, hat er dann aber nicht
mehr bestritten.
Die Fahrt
begann an einem strahlenden Morgen. Als unter dem rötlichen Himmel voller
Schäfchenwolken und Vogelgesang auch die Marienkirche und der Sonnenstein in
der Ferne verschwanden, als grün und weit und überall blühend uns das Elbtal
umgab, begann ich zu singen: »Zasvítil měsíc nad humenkou.« Dass der Wagen
holperte und ich dadurch staccato sang, störte mich nicht. Ich brach nur ab,
weil mir einfiel, dass das Lied vom Mond über der Scheune bei strahlendem
Sonnenschein nicht das richtige sei.
»Zastavte«,
fing Jura an. Jawohl, das war das richtige. »Steht auf«, das sang ich mit.
Aufstehen würden wir, weggehen von Pirna, nach Polen gehen, und zwar in eine
durch unser Geld gesicherte Zukunft. »Beskidy, beskidy«, sangen wir und fuhren
nicht durch die Beskiden, sondern singend durch Sachsen. Gelbweiß blühten die
Wegränder. Blau war der Himmel. Auch unsere Mutter fiel ein. Zuletzt waren wir
bei Kinderliedern. Und dann waren wir still.
In Heidenau.
Denn da
mussten wir halten. Kurz vor Heidenau wurde die Straße so schlecht, dass wir
Vorspann nehmen mussten, was bedeutete, außer der Leihgebühr für die
zusätzlichen Pferde in den Herbergen auch das Doppelte an Arbeit und Futter zu
zahlen. »Die könnten doch die Löcher in der Straße mal füllen«, schimpfte Jura.
»Das werden
die nicht tun«, sagte ich. »Pferde zu verleihen sichert ihnen ein Zusatzeinkommen.«
Als Jura mit der Peitsche
nach vorn zeigte, »Da ist Dresden«, versuchten wir uns wieder zu freuen. Die
Türme und Dächer wurden immer größer und unterscheidbarer. Am Stadttor war man
uns gnädig.
»Name?«
»Nezval.«
»Und?«
»Nezvalová«,
sagte die Mutter.
»Auch
Nezvalová«, sagte ich.
Das genügte.
Nicht einmal unsere teuren Passierscheine wollte man sehen. Eingekeilt von
Wagen und Karren aller Art, rollten wir langsam an immer größer werdenden
Häusern vorbei.
»Aber Prag
ist schöner«, sagte Jura. Der noch nie in Prag war.
Am Altmarkt glaubten wir, wir
hätten uns in der Adresse geirrt. »Zeig doch mal«, wir rissen uns gegenseitig
den Brief aus den Händen. Die Mutter fragte eine Frau und erfuhr, dass wir
richtig seien. Der Landwehr wohnte wirklich in diesem Palais.
Nicht, dass
wir warten mussten, war damals das Schlimme. Der Diener, der uns in die Halle
und zu den an der Wand aufgereihten Stühlen geführt hatte, kehrte zurück
Weitere Kostenlose Bücher