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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
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spüren, ihre Stimme nicht hören konnte, ohne sich
gleichzeitig auch an ihr Flüstern zu erinnern.
    Und sie haben
genügt, diese Jahre. Sie haben genügt, die Höhen, von denen er schwärmte,
abzutragen, die Tiefen, die er rühmte, aufzufüllen, seine Seelenlandschaft zu
ebnen, ihn, den möglicherweise damals tatsächlich so Empfindenden, ich will es
ja gar nicht bestreiten, jung war er, feinfühlig war er, ihn eben wie alle
anderen zu machen.
    Die Vergangenheit! Und die
Zukunft! Denn auch um die Zukunft kümmerten sie sich auf dem Faulbett! Die
Zukunft der Menschheit – unter dem machten sie’s nicht!
    Ich weiß nur,
dass diese knapp zwanzig Jahre schon genügten, seine Sorgen um die Zukunft der
Menschheit auf die um die eigene schrumpfen zu lassen!
    Für die er
auch bereit war gestern, seine Judith zu opfern! Für die er sie erpressen
wollte. Mit jenem Sommer erpressen. Mit jenem Sommer voller Freude und
Ungeduld. Freude, wenn er sie unter den anderen sah, Ungeduld, wenn der Abend
herankam. Mit seinem Glücksempfinden von damals. Mit seinem Blick auf ihre bei
einem Gartenfest Kuchen schneidenden und den Tisch mit Blüten von
Kapuzinerkresse schmückenden Hände. Er sah sie. Er sah das Laken, das als
Tischtuch diente. Er sah sie der Hausfrau helfen und zwischen die gelben und
orangenen Blüten die braunen hohen Becher austeilen, während er nicht weit
davon mit Heinrich Kunow stand und so tat, als interessiere ihn der Wechselkurs
wirklich. Ein Taler altes Geld war nun fünf Taler neues wert. Er sah ihr zu. Er
sah ihre Hände.
    Und die Obstbäume. Die
Beerenbüsche. Das Rosenbeet. Was alles zu ihren Händen gehörte! Den Rasen von
Maiglöckchen, die längst nicht mehr blühten, die mit ihrem Dunkelgrün im
Schatten der Laube eine größere Fläche bedeckten.
    Er hörte ihre Stimme unter
denen der anderen Frauen. Sie wies gerade die kleine Neufeld, die schon wieder
auf Benígna losging, zurecht: »Hör doch auf, Monika! Du findest doch überall
Kümmel, nur nicht im eigenen Käse!«
    Die Frauen
saßen vor der von Geißblatt umwucherten Laube, außerdem noch der lange Henning
Chemnitz, Heinrich Kunow und sein pickliger Vetter Daniel. Von dem hatte Judith
ihm einmal gesagt, dass er, wenn er öfter mit einer Frau schlafen dürfte,
wahrscheinlich seine vielen entzündeten Pickel verlöre. Aber sie könne sich
schließlich nicht um alles kümmern.
    Und danach kümmerte sie sich
wieder um ihn.
    Valentin saß
neben dem Gurkenbeet an dem länglichen Tisch bei den Männern und war voller
Freude, denn Judith war anwesend. Auch wenn er wie alle anderen mit den Blicken
an den Lippen des manchmal mit fremder Betonung sprechenden Heinrich Schaums
hing, des Bruders von Bürgermeister Sigismund Schaum, der wegen einer
Erbschaftsangelegenheit von Amsterdam, wo er schon seit Jahren wohnte, für ein
paar Wochen in die Heimat zurückgekommen war und dem zu Ehren man dieses
Gartenfest gab.
    »Was ist das
für ein Erbe?«, hörte Valentin links von sich den jüngeren Gartz mit dem
Konrektor flüstern. Rechts kam Baltzer mit verrutschten Strümpfen zwischen
Erbsenbüschen und Stangenbohnen hervor. Eine aufgeregte Kinderschar folgte ihm.
»Wie seht ihr denn aus!« Die Schreckensrufe mehrerer Mütter waren zu hören.
»Junge! Wie das neunzehnte Kind!« Das war Judith. »Komm mal mit! Komm mal
mit!«, hörte er Baltzer drängen. »Wir haben Ratteneier gefunden!«
    Bei Schaums Erbschaft ging es
um den Lehnschulzenhof in Lichtenrade. »Da sitzt der Halbbruder, der
uneheliche.«
    Valentin sah
Judith, von Kindern umringt, hinunter zum Bächlein Roddahn gehen und freute
sich, dass es in Schaums Familie einen unehelichen Halbbruder gab. Er
blinzelte. Die Sonne stand hoch am Himmel. Insekten summten. Schaum aus
Amsterdam wollte sich mit seiner Rückkehr beeilen. Die Wege in Norddeutschland
würden nicht sicherer und der spanisch-holländische Waffenstillstand laufe
demnächst aus, wenn…
    Man diskutierte
Waffenstillstand und Handel.
    Dann, nach
einem Weilchen, Valentin versuchte noch immer, Judiths von Kindergeschrei oft
übertönte Stimme zu orten, war man vom Handel auf den Buchhandel und vom Markt
auf den Buchmarkt gekommen.
    »Oder, Klein?
Was, was meint Ihr? Ihr seid doch da Fachmann.«
    Wie? Ach so. »Doch, doch«,
sagte er. »Elzevir ist einer der besten.«
    »Und nun wurde seine
Druckerei auch zur Leidener Universitätsdruckerei ernannt«, sagte der
Amsterdamer Schaum.
    Ach so? Das
wusste Valentin nicht. Er wusste nur, dass Elzevir in

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