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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
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an«, weil sie herausgefunden
hatte, dass auch das Anhalten schön ist. Dass dann etwas von allein
weitermachte, jedenfalls behauptete sie das. Während sie sich um seine Mühe
nicht scherte, das Kopfrechnen, das er einschalten musste,
zweihundertachtundvierzig durch dreizehn, die Aufzählung aller Beweisgründe der
römischen Rhetorik, die loci di re und die loci di persona, bis diese persona
unter ihm es ihr endlich wieder weiter zu besorgen erlaubte, »Weiter«, und ihr
Griff an seinen Schultern immer fester und fester wurde und ihre Stimme immer
atemloser, immer dunkler mit ihrem »Ja« und »Weiter«, bis sie abbrach bei
»Weit…«, denn da war es so weit, in einem Ton, einem Dunkelton, der tief, ganz
tief, aus ihrer Kehle zu kommen schien, aus einer Tiefe, die schon kein Ort
mehr, die schon Zeit, die schon Vorzeit und Teil aller menschlichen
Vergangenheit war.
    Die dunkle Stube. Das
rot-weiße Faulbett. Der Frieden. Seine Enklave.
    »Enklave?«
    »Ein von
fremdem Gebiet umschlossenes Landstück, das zu einem größeren Land gehört.«
    »Und was ist das größere,
wenn das hier Eure Enklave ist?«
    Sie sagten
»Ihr«. Auch dabei. Aus Furcht, sich sonst in Gegenwart anderer zu versprechen.
    Sie lag in
seinem Arm, den Kopf an seiner Schulter, und fühlte, wenn er sprach, seinen
Brustkorb beben.
    »Ich fühl
mich wie in einer Enklave des Goldenen Zeitalters.« Erst hatte er Land gesagt,
nicht Zeit. Aber sie berichtigte ihn nicht. Sie verstand schon so ungefähr, was
er meinte.
    »Was ist das
Goldene Zeitalter?« Sie legte auch noch ein Bein über seine.
    »Das war eine
Zeit voller Frieden, berichten die Dichter.« Sein Brustkorb bebte. »Damals
lebten die Menschen mit der Schöpfung im Einklang. Sie schlachteten nicht und
jagten nicht; sie ernährten sich von dem, was die Erde hergab. Sie brauchten
keine Gesetze und Strafen, weil sie sich zueinander freundlich verhielten. Es
gab keine Unterschiede zwischen ihnen, weder Hoch und Niedrig noch Arm und
Reich.«
    »Aber das haben
sich Dichter nur ausgedacht, oder?«
    »Weiß ich
nicht. Zwischen Platon, der darüber schrieb, und Ovid, der auch darüber
schrieb, liegen ein paar hundert Jahre. Vielleicht, wenn an verschiedenen Orten
zu verschiedener Zeit dieselbe Vorstellung aufkommt, gibt es in der Welt etwas,
das ihr entspricht.«
    »Aber der
Jüngere kann doch auch von dem Älteren abgeschrieben haben.«
    »Das ändert nicht viel. Das
hieße ja, dass die alte Vorstellung immer noch gebraucht wird. Wozu wohl, muss
man sich dann doch fragen.«
    »Als Plan? Um nach ihm ein
neues irdisches Paradies und Rosengärtlein aus dieser Welt zu machen, wie es
Eure Brüder vom Rosenkreuz wollen?«
    So weit, bis
dahin kamen sie! Bis zu der Frage, ob der Mensch im Laufe der Zeit etwas
verloren habe oder, im Gegenteil, etwas gewinnen müsse! Bis dahin! Bis zu der
Frage, ob man die Welt so lassen solle oder versuchen, in ihr etwas zu ändern.
    »Ändern«, sagte Valentin.
»Das, was man ändern kann. Und dort, wo man ist.«
    Er versuchte es. In der
Schule. Er versuchte, die Schüler die Vokabeln gereimt lernen zu lassen, domus
– ein Haus, mus – eine Maus, und erzielte gute Erfolge damit, doch gab es auch
ein paarmal Gelächter. Er verstehe ihn ja, sagte der Rektor. Doch er möge
bedenken, wie nahe dem Rathaus sich die Schule befinde. Was man dort von ihrem
schweren Amt halten werde, wenn es von Gelächter begleitet sei.
    Er versuchte,
die Knaben für Ovid zu begeistern. Zuerst erzählte er ihnen die Geschichte von
den Lykischen Bauern. Wie die Göttin Latona mit ihren Kindern erschöpft und
durstig an einen See kommt. Wie die Bauern ihr verbieten, daraus zu trinken.
Wie sie die Bauern zur Strafe in Frösche verwandelt. Und dann las er deren
Quaken auch vor, damit sie es hörten: »Quamvis sint sub aqua, sub aqua…« Die
Schüler lachten. Die Schüler, unaufgefordert, wiederholten erfreut: »Quamvis
sint sub aqua, sub aqua…« Der Konrektor hielt es für seine Pflicht, sich bei
dem Rektor danach zu erkundigen, ob es ein korrektes didaktisches Mittel sei,
eine ganze Schulstube quaken zu lassen.
    Valentin versuchte
überhaupt, wo es ihm möglich war, zu bessern, zu schützen, zu erhalten, seine
Vyfken vor dem Betrug mit den neuen Münzen zu schützen. »Aber zwölf Groschen
sind doch mehr als zehn!« – »Nein, Mutter, Ihr habt nur mehr Münzen in der
Hand. Es ist aber weniger Silber darin. Ein Groschen neues Geld ist weniger
wert als ein Groschen des alten. Gebt, wenn Ihr könnt,

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