Die Hure Und Der Moench
einem Boten, nachdem sie den Brief mit dem Siegel des Klosters versehen hatte.
Danach ließ sie sich in ihrer Zelle auf dem kalten Boden nieder und starrte lange stumm vor sich hin. Es war ihr, als hätte sie ihr eigenes Todesurteil gesprochen.
Am Nachmittag desselben Tages entwich sie aus dem Kloster und irrte ziellos durch die Weinberge, bis sie einen Keller fand, dessen Tür offen stand. Hier vergrub sie sich, bis sie am nächsten Morgen von den Handwerkern des Klosters, die Mutter Elisa auf die Suche nach ihr geschickt hatte, mit Hilfe ihrer Hunde entdeckt wurde. Als man sie herausführte, waren ihre Lippen blaugefroren.
|288| Francesco hatte die Weihnachtstage bei Rinaldo und seinen Töchtern verbracht, wo er sich mit öden Porträtmalereien über Wasser hielt. Am heiligen Abend lief er allein durch das verlassene Florenz, sah Bettler an Feuern sitzen. Er dachte an Angelina. Wie sie sich wohl entscheiden würde? Und wenn sie nicht zurückkäme, was wäre dann? Am Anfang des neuen Jahres brachte ein Bote einen versiegelten Brief. Er kam vom Kloster Corona della Santa Maria. Francesco erbrach das Siegel. Nachdem er die Worte gelesen hatte, blieb er lange bleich und verloren sitzen.
|289| 36.
Am nächsten Tag schien die Sonne schon frühlingshaft warm. Das Wetter war ungewöhnlich mild in diesem Winter. Die Hügel um das Kloster Corona schimmerten braun und gelblich. Dazwischen ragten die spitzen Finger der Zypressen hervor. Angelina sah alles wie in einem Nebel. Sie wusste nicht, was mit ihr geschehen war, konnte sich über nichts mehr freuen. Als Mutter Elisa abends zu ihr kam und ihr anbot, mit ihr zu sprechen, wies sie die Äbtissin zurück.
»Ich muss allein damit fertig werden«, sagte Angelina. »Ich darf Eure Hilfe nicht mehr in Anspruch nehmen.«
»Das musst du auch nicht«, antwortete Elisa. »Aber du musst anfangen, dich aus dem Sumpf, in den du geraten bist, herauszuarbeiten. Warum bist du aus dem Kloster entwichen?«
»Ich erinnere mich nicht daran«, sagte Angelina müde.
»Warum hast du das getan?«, wiederholte Suor Elisa.
Angelina sank schluchzend auf ihre Matratze. Da waren sie wieder, diese Bilder … Nein, sie wollte sie nicht sehen, wollte sich keinem Bild der Welt mehr aussetzen! Die Männer hatten die Tür ihrer Höhle, die sie mit einem Pflock von innen verschlossen hatte, aufgebrochen, sie herausgezerrt.
»Sie haben mich herausgezerrt wie einen tollen Hund«, stieß Angelina hervor.
»Die Männer wollten dir helfen!«, protestierte Elisa.
Angelina richtete ihren Blick auf Elisa und schaute sie an, als sähe sie die Äbtissin zum ersten Mal.
»Sie wollten mir helfen«, sagte sie wie zu sich selbst. »Ja, gibt es das denn wirklich, dass Menschen einander helfen?« Sie wandte sich mit einem flehentlichen Gesichtsausdruck an Elisa.
|290| »Du warst auf einem guten Weg, Angelina«, sagte Mutter Elisa. Sie wiegte ihren Kopf hin und her. »Du hattest angefangen, wieder Vertrauen zu fassen, nachdem du den Glauben daran jahrelang verloren hattest. Das Wiedersehen mit Francesco und deiner Mutter, deine Erinnerung an die Vergangenheit, deine Träume und die schrecklichen Geschehnisse, das alles hat dich wieder auf den Weg geführt, den du vorher gegangen bist.«
»Was für einen Weg meint Ihr?«
»Ich meine den Weg in die Dunkelheit, in die Trennung von Gott und den Menschen.«
»Aber es gibt keinen anderen Weg für mich! Ich habe gesündigt, Mutter Elisa, so schwer, dass Gott und die Menschen mir niemals werden verzeihen können!«
»Was hat dich darauf gebracht?«
»Als wir das Paradiesspiel aufgeführt haben, da wurde es mir mit einem Mal ganz stark bewusst. Ich bin die Eva, die Adam dazu verführt hat, vom Baum der Erkenntnis zu essen! Ich habe ihn verführt. Seitdem leide ich nur noch Schmerzen. Wenn ich beten will, kommt kein Laut über meine Lippen. Ich sehe mich und die anderen Schwestern wie eine Herde von Lämmern, die willenlos dem Tod entgegengehen.«
»Und ich bin die Schlange, die dir das eingeflüstert hat, nicht wahr?«, sagte Elisa. Angelina blickte ihr ins Gesicht. Lag da ein Lächeln in ihren Mundwinkeln?
»Nein, natürlich nicht wirklich«, gab Angelina verwirrt zurück. »Aber ich bin schuld an allem, was geschehen ist, soviel ist gewiss.«
»Wir sind immer schuld an den Handlungen, die wir vollbringen, und an deren Folgen«, fuhr Elisa fort.
»Werden die Schwestern sich nicht beschweren, dass wir hier so lange miteinander reden?«, fragte Angelina
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