Die Hure von Bremen - historischer Kriminalroman
Wange. »Niemand anderer hätte sich für mich eingesetzt, weißt du? Ich stehe tief in deiner Schuld.«
»Nein. Ich bin sicher, dass es noch mehr mutige Menschen hier gibt. Sie waren nur grade nicht da. Du hättest doch auch so gehandelt?«
»Ich weiß es nicht, Kind.« Sie seufzte.
»Sie hätte«, mischte sich nun Laurenz ein, und Lena fiel auf, was für eine wohltönende Stimme er hatte, wenn er nicht schimpfte. »Zeig ihr deine Hand.«
Marie hielt Lena die rechte Hand entgegen. Der kleine Finger fehlte.
»Oh«, war alles, was Lena in ihrer Betroffenheit zu sagen wusste. Es war ihr zuvor nie aufgefallen, obwohl sie Marie schon viele Male gesehen hatte.
»Es stört mich schon lange nicht mehr. Aber Laurenz hat recht. Ich habe mich tatsächlich einmal eingemischt, da war ich kaum älter als du. Sie wollten einem Jungen namens Hans eine Hand abschlagen, weil er ein Brot gestohlen hatte. Viele litten damals großen Hunger, grade die Armen. Hans war nur noch Haut und Knochen. Er stahl das Brot von einer dicken Bäckerin, wurde erwischt, und dann sollte ihm öffentlich die Hand abgehackt werden. Da bin ich dazwischengegangen.« Sie betrachtete im schwachen Mondlicht ihre vier verbliebenen Finger, ehe die Hand wieder in ihrem Umhang verschwand. »Wenigstens hat der Junge seine Hand behalten dürfen.«
»Das war mutiger als meine Tat.«
»Vielleicht mutig, vielleicht auch etwas unbedacht. Nun, wie dem auch sei, es ist lange her und vergessen.«
Lena bemerkte, dass sie nicht den Weg zum Töchterhaus einschlugen, sondern geradewegs auf das östliche Stadttor zugingen.
»Wohin gehen wir? Sollte ich nicht zwei Tage am Pranger stehen?«
»Ich habe mit meinen Kameraden gesprochen, und sie sind meiner Bitte nachgekommen, die Strafe auszusetzen. Auch werden sie Marie nie wieder ein Haar krümmen. Es waren zwei neue Büttel, die nicht wussten, wie wir hier einiges handhaben.«
»Dann machst du wohl mächtig Eindruck bei deinen Kameraden.«
»Oder er weiß Dinge, vor denen viele Angst haben, dass sie ans Tageslicht kommen könnten«, ergänzte Marie geheimnisvoll, worauf Laurenz ihr einen warnenden Blick zuwarf.
»Warum haben sie Angst vor dir?«, wollte Lena wissen.
»Sie haben keine Angst, Marie übertreibt.«
»Aber er ist klüger als die anderen, und sie hören auf sein Wort. Sogar der Vogt«, ergänzte Marie. »So, nun gehen wir zu mir nach Hause. Dort kannst du dich ein paar Tage kurieren. Bis du wieder auf den Beinen bist, hat sich die Wut von Frau Margarete sicher auch gelegt.« Sie zwinkerte Lena verschwörerisch zu.
»Ich hoffe, ich mache dir nicht zu große Umstände.«
»Nein. Ich bin froh, wenn ich jemanden bei mir habe, um den ich mich kümmern kann.«
* * *
»Was hast du dir dabei gedacht?« Die Nasenflügel von Frau Margarete bebten, und ihre Augen funkelten zornig. »Zeig mir deinen Rücken!«
»Ich konnte nicht zusehen, wie man sie auspeitschte.« Lena band ihr Kleid auf und zog es bis zur Hüfte hinunter.
»Hm. Sind einigermaßen verheilt. Aber es werden trotzdem hässliche Narben bleiben. Kein schöner Anblick für einen Mann. Damit werde ich dich den betuchten Gästen nicht mehr vorstellen können.«
»Das ist mir egal.« Lena zog sich ihr Kleid über die Schultern, und Frau Margarete verschnürte es wieder. Dann fasste sie Lena an den Schultern und drehte sie unsanft zu sich herum.
»Dir kann es gleich sein, aber mir nicht. Du hast beim Adel und den Kaufleuten immer gutes Geld gebracht. Den Ausfall, den ich nun wegen deiner Torheit habe, werde ich dir abziehen.«
Nun wurde Lena ebenfalls böse, doch sie zwang sich zur Ruhe. »Wie hättet Ihr denn reagiert, wenn Ihr gesehen hättet, wie man die arme Marie auspeitscht?«
Einen Augenblick schien Frau Margarete regelrecht verblüfft und starrte Lena nur an. Dann besann sie sich. »Ich hätte dem Mann Geld oder meine Dienste angeboten. Da du aber zu wenig Geld hast, wäre es klug gewesen, ihm ein Schäferstündchen zu bieten, damit er Marie nicht zu Tode prügelt. Aber nein …« Theatralisch hob sie die Hände in die Höhe, ehe sie sich setzte und fortfuhr: »Du musstest auch noch fluchen, vor all den Leuten. Damit hast du mir die Pfaffen auf den Hals gehetzt. Setze dich!« Sie deutete auf den freien Stuhl ihr gegenüber.
Lena gehorchte widerwillig. »Ein Priester war meinetwegen hier?«
»Ja. Und er hat uns zwei Stunden lang gepredigt, wie wir uns den Bürgern gegenüber verhalten sollen. Auch der Bischof war erzürnt über dein
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