Die Hure von Bremen - historischer Kriminalroman
schluckte sie und holte tief Luft, spürte, wie ihr alter Schutzschild, den sie mühevoll aufgebaut hatte, sich langsam in ihrem Inneren erhob.
»Veronika ist verschwunden«, sagte Lena wie durch eine Wand aus Nebel.
Laurenz sah sich um, als fiele auch ihm jetzt auf, dass das Kind nicht da war. Mit großen Augen sah er sie an. »Vielleicht ist sie bei Astrid? Wir gehen gleich zu ihr, und auf dem Weg erzählst du mir, was geschehen ist.«
Alles, was Lena gehört und gesehen hatte, war erzählt, als sie durch das Stadttor gingen.
Laurenz hatte die ganze Zeit geschwiegen. Seine Miene war undurchdringlich. Auch Theresa und Astrid waren entsetzt wie sie selbst, als sie erfuhren, was geschehen war. Veronika war nicht bei ihnen, und sie wussten auch nicht, wo sie sein konnte.
Bitterlich enttäuscht kehrten sie zu Marie zurück. Lena war am Rande einer Panik. Wo konnte das Kind noch sein, wenn nicht hier? Es gab keinen weiteren Ort, an den Marie sie gebracht haben könnte.
In der Hütte hob Laurenz seine Tante schwer atmend hoch und legte sie auf das schmale Bett. Nachdem er ihre Arme sorgsam vor der Brust verschränkt hatte, sprach er ein Gebet. Lena war überzeugt, dass es Marie nicht viel nützen würde, denn sie hatte sich schon lange von Gott abgewendet.
Ihr Blick streifte durch die zerstörte Hütte. Alles war durchwühlt, Tiegel, Töpfe und Schalen waren ausgeleert und umgeworfen, Kräuter und Pulver lagen auf dem Boden, dem Tisch und dem Regal verstreut. Auf den Dielen klebte das Blut.
»Eins ist Gewissheit«, begann Lena, als sie sicher sein konnte, dass ihre Stimme ihr gehorchte. »Es war keiner der Unsrigen. Er ritt einen Rappen und muss von vornehmer Herkunft gewesen sein. Sein Gesicht habe ich leider nicht erkannt, aber seine Stimme konnte ich mir einprägen.«
Laurenz hob den umgestürzten Schemel auf und setzte sich. »Es hätte nicht so kommen müssen. Immer wieder habe ich sie gewarnt, aber sie hat nur gelacht.« Traurig stützte er seinen Kopf auf die Hände.
Für einen Moment war sie versucht, ihm tröstend die Hand auf die Schulter zu legen, stattdessen begann sie, die zerbrochenen Schalen, Tiegel sowie die Kräuter und Pulver vom Boden aufzuklauben. Um Laurenz einen Moment seiner Trauer zu überlassen, ging sie anschließend nach draußen und setzte sich an die Hauswand. Sie hörte, wie eine Singdrossel ihr Abendlied trällerte, und fühlte sich an die geistreichen Stunden mit Marie erinnert, als sie hier draußen in der Abendsonne gesessen und über dieses und jenes geredet hatten.
Abgesehen von Laurenz war die Heilerin ihre einzige wirkliche Freundin gewesen. Mehr noch, sie war ihr wie eine Mutter geworden. Schon einmal hatte sie ihre Familie verloren, damals, als ihr Stiefvater sie ans Töchterhaus verkauft hatte, und Lena ahnte, welche Einsamkeit sich mit dem heutigen Tage in ihrem Herzen breitmachen würde.
Was hatte den Fremden nur veranlasst, diese zierliche Person so zu prügeln, dass sie daran starb? War er einer der Männer, die wegen ihrer Probleme mit ihrer Manneskraft zu ihr gekommen waren und dem Marie nicht helfen konnte? Mit solchen Männern hatte auch Lena schon ihre Erfahrungen gemacht, und sie wusste, wie ungehalten und brutal sie werden konnten, wenn ihre Männlichkeit nicht so wollte wie sie.
Mindermann … Mindermann … Mörder … Veronika. Das waren Maries letzte Worte gewesen. Was bedeutete das? War Veronika ebenfalls tot, und ihr Mörder war Mindermann? Sie bekam Panik und versuchte, ruhig zu atmen. Nein, es konnte nicht sein. Sie spürte ganz deutlich, dass Veronika lebte. Oder meinte Marie ihren eigenen Mörder, und der hatte auch das Kind mitgenommen? Das fühlte sich wahrscheinlicher an.
Lenas Gedanken wanderten hin und her. Sie kannte einige Männer in der Stadt, die diesen Namen trugen, angefangen beim Adel bis hin zu einem Bettler. Wenn sie jedoch an das stolze Pferd dachte, kam nur der Adel in Frage. Vielleicht war der Mann ein Ritter. Unter den reichen Mindermanns gab es einige Ritter und sogar einen Ratsherrn. Wie und wo sollte sie zu suchen anfangen? Von Pferden verstand sie nur so viel, dass sie gut für den Transport waren, aber ein Rappe würde ihr wohl auffallen.
Laurenz trat aus der Hütte und unterbrach ihre Gedanken. Er fuhr sich mit der Hand durch das nassgeweinte Gesicht. »Ich werde dem Vogt Bescheid geben.«
Lena nickte stumm, doch sie glaubte nicht, dass der Vogt seine Kämmerer oder Büttel auf die Suche schicken würde, immerhin war
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