Die Hure von Bremen - historischer Kriminalroman
Das edle Pferd mit glänzendem schwarzen Fell und prachtvollem Zaumzeug warf unruhig den Kopf hoch.
Als Lena nahe genug war, hörte sie eine laute Männerstimme aus der Hütte: »Du bist Unrat, keiner wird sich darum scheren, wenn du nicht mehr da bist! Sag mir, wo du es versteckt hast, oder du siehst sie nie wieder!« Es trat eine kurze Pause ein, dann ertönte die Stimme erneut: »Störrisches Weib, warum hast du es mir nicht gegeben!«
Von Veronika und Marie hörte Lena nichts, worauf sie eine böse Vorahnung beschlich. Nach einer Weile klirrte es ein paar Mal, ganz so als ob irdene Töpfe zerschlagen wurden, dann wurde die Tür jäh aufgerissen, und ein großer Mann kam heraus, zog sich die Kapuze seines Umhangs zurecht, schwang sich auf das Pferd und gab ihm die Sporen. Lena wartete, bis er außer Sicht war, dann sprang sie aus ihrem Versteck.
»Veronika? Marie?«, rief sie schon im Laufen, doch sie bekam keine Antwort. Sie stürzte durch die offene Tür. Ein Schrei entfuhr ihr, als sie die Heilerin blutüberströmt am Boden liegen sah. Von Veronika keine Spur. Maries Brust hob und senkte sich zwar, aber sie atmete flach. Vorsichtig bettete Lena ihren Kopf auf ihren Schoß, worauf die Verletzte stöhnte. Sie öffnete die Augen und starrte Lena entsetzt an.
»Was ist geschehen? Wo ist mein Kind?«, fragte Lena mit zitternder Stimme. Ohne weiter nachzudenken, zog sie das Laken vom Bett und riss ein Stück davon ab, um Maries Wunden abzutupfen. Auch aus ihren Ohren lief Blut. Es sah schlimm aus.
»Lena«, hauchte Marie so leise, dass es kaum zu verstehen war.
»Ich bin hier«, antwortete sie. »Ich bin bei dir.« Sie hoffte, dass Veronika irgendwo in Sicherheit war. »Wo tut es dir weh?«
Marie schloss die Lider.
Lena atmete tief ein, verdrängte die aufkeimende Panik. »Wer war dieser Mann? Warum hatte er das getan?«
»Minder …«, flüsterte Marie und hustete erstickt.
»Sch…«, machte Lena, als sie merkte, wie schwer der Heilerin das Sprechen fiel. »Ich werde Hilfe holen.«
Beinahe unmerklich schüttelte Marie den Kopf und griff nach Lenas Hand.
»…mann, Mord!«, keuchte sie weiter. »… Minder… hat Veronika«, sagte sie noch, dann fielen ihre Lider zu.
»Marie?!« Panik erfasste Lena mit voller Wucht. »Bitte, bitte nicht. Lass uns nicht alleine!« Vorsichtig schüttelte sie die Hand der alten Frau.
»Sag doch etwas. Atme! Bitte …« Doch Lena wusste, dass es zu spät war, saß wie versteinert auf dem Boden und streichelte das Haar der Heilerin.
Irgendwann begriff Lena, dass es vorbei war, und ließ den Kopf der Toten sanft auf den Boden gleiten. Als würde sie selbst jetzt erwachen, stand sie auf, sah sich erneut in der Hütte um und lief nach draußen. Immer und immer wieder rief sie den Namen ihrer Tochter. Doch von Veronika war weit und breit nichts zu sehen. Nachdem Lena eine Weile die nahe Umgebung erfolglos abgesucht hatte, kehrte sie in die Hütte zurück. Wie in Trance befeuchtete sie das blutige Tuch in der Wasserschüssel, kniete sich wieder hinunter und tupfte Marie das Gesicht ab.
»Warum nur?«, flehte sie, ließ langsam die Hand sinken, schloss die Augen und tat, was sie seit Langem immer wieder vermieden hatte. Sie weinte. Mit ihren Armen umfasste sie sich selbst und wog ihren Körper hin und her, den verschleierten Blick noch immer auf die Tote geheftet. Lena fühlte sich allein und betäubt. Der Schmerz um Marie und die Sorge um Veronika raubten ihr beinahe den Verstand. Wo war sie nur?
Sie wusste nicht, wie lange sie so dagesessen und ihren Tränen freien Lauf gelassen hatte, als eine Hand sie vorsichtig an der Schulter berührte. Benommen drehte sie sich um. Sie hatte nicht bemerkt, dass es draußen bereits dämmerte.
»Lena! Um Himmels willen, was ist hier passiert?«, fragte Laurenz mit entsetzter Miene, griff nach der Hand der Toten, legte seinen Kopf auf ihre Brust und horchte.
Lena schüttelte stumm den Kopf, sie konnte nicht sprechen, nicht jetzt, und sah dabei zu, wie er vergeblich nach einem Lebenszeichen bei Marie suchte. Als er sich wieder aufrichtete, war er blass. Seine Schultern hingen, während er Maries Gesicht streichelte. Lena fühlte sich leer und sah stumm zu.
Als Laurenz sein Tun beendet hatte, griff er Lena unter die Arme und zog sie auf die Beine. Erneut drängten ihre Tränen nach oben, die sie aber mit aller Macht zurückhielt. Sie hatte sich und ihrer Mutter geschworen, dass kein Mann sie jemals wieder weinen sehen sollte. Heftig
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