Die Hure von Bremen - historischer Kriminalroman
sich heran. Als sie auf die kleine Gruppe zuging, legte eine der Frauen ihre Hand vor den Mund, als hätte sie einen Geist gesehen.
Vielleicht ist ihr nicht wohl, dachte Lena, während sie sich ihnen näherte. Als sie die Frauen beinahe erreicht hatte, blieb sie ungläubig stehen. Sie starrte die Frau an und blinzelte. Nein, es war kein Traum. »Mutter?«, flüsterte Lena ungläubig.
Die Angesprochene ließ ihre Hand sinken und nickte langsam. Lenas Herzschlag beschleunigte sich. Es war tatsächlich ihre Mutter, und sie lebte. Sie war hier! Ohne auf etwas anderes zu achten, rannte sie die letzten Ellen. Dann fielen sie sich in die Arme. Die fragenden Blicke der Soldaten und einiger Frauen folgten ihr neugierig.
»Lena, meine Lena, bist du es wirklich?«, fragte Judith von Riede und schlang die Arme fest um ihre Tochter, sodass sie meinte, keine Luft mehr zu bekommen.
»Ich bin es«, keuchte sie. Heiß liefen die Tränen über ihre Wange und vermischten sich mit denen ihrer Mutter.
»Das ist also deine Tochter, von der du erzählt hast. Was für eine glückliche Fügung, wir sollten dem Herrn beim Mittagsmahl danken.« Silke war an sie herangetreten und legte beiden freundlich ihre Hände auf die Schultern. »Gebt vor zu arbeiten, bevor die Wachen noch herkommen, sie beobachten euch schon argwöhnisch. Wenn sie sich abgewendet haben, schleicht euch in die Scheune.«
Judith nickte wissend. »Komm, mein Kind. Ich zeige dir, was wir hier tun, und in der Zwischenzeit haben die Wachen uns wieder vergessen. Dann können wir in Ruhe reden.«
Lena war noch immer fassungslos und ließ sich willig alles zeigen und erklären, obwohl sie nicht wirklich zuhörte. Ihre Gedanken rasten. Sie war in diesem Moment so glücklich wie schon lange nicht mehr.
Nach einer Weile schienen die Wachen tatsächlich keine Notiz mehr von ihnen zu nehmen. Ihre Mutter fasste Lena bei der Hand und führte sie durch Schilf und Büsche zurück in die Scheune. Dort setzten sie sich auf eins der Lager, hielten sich an den Händen und sahen einander einfach nur an. Lena konnte nichts sagen, ein dicker Kloß saß in ihrem Hals fest.
Wie früher nahm die Mutter eine Decke und hängte sie ihrer Tochter um die Schultern. »Du bist ja halb erfroren. Am besten, du ziehst die feuchten Sachen aus und wir besorgen dir ein paar trockene Kleider.« Sie nahm den kleinen Korb, den Lena noch von zu Hause kannte, packte etwas Brot und Käse aus, goss ihnen Wasser ein und betrachtete ihre Tochter dann eingehend. Dankbar nahm Lena einen Schluck.
»Du bist erwachsen geworden«, stellte die Mutter fest, während Lena ihre Kleider wechselte.
Lena nickte und bemerkte ebenfalls Veränderungen im Gesicht der Mutter. Ein paar Falten hatten sich unter die Augen und neben den Mund geschlichen, doch sonst war ihre Haut noch sehr ansehnlich. In den Haaren schimmerten ein paar graue Strähnen, aber es stand ihr gut, und obwohl sie recht dünn wirkte, war sie noch immer hübsch anzusehen.
»Wie geht es dir, Mutter, und wo sind die anderen? Ich glaube, Kurt habe ich schon gesehen.«
Wie aufs Stichwort kam ihr kleiner Bruder in die Scheune geflitzt und blieb außer Atem vor ihnen stehen. Seine nassen Haare tropften noch, und in seinem Gesicht hatten sich inzwischen lustige Sommersprossen gebildet. Judith von Riede zog ihn heran und hängte ihm ebenfalls eine Decke um. Er hatte die gleichen grünen Augen wie ihre Mutter, aber die Mundpartie und die Nase waren eindeutig von seinem Vater.
»Setz dich zu uns, Kurt. Erkennst du deine Schwester Lena noch?«
Folgsam setzte er sich und betrachtete Lena eingehend. Dann hellte seine Miene sich auf, und er nickte. Dabei leuchteten seine großen Augen.
»Kurt, ich habe dich so vermisst und oft an dich gedacht. Groß bist du geworden, bald ein Mann.« Anerkennend wuselte sie ihm durch das feuchte Haar, dann zog sie ihn an sich, was er widerwillig über sich ergehen ließ. Anschließend sah er seine Mutter an, deutete auf Lena und ließ zwei Finger über die Decke laufen. Verwirrt sah Lena von ihm zu ihrer Mutter.
»Ja, sie war lange fort, aber nun ist sie wieder bei uns. Das ist wirklich ein Wunder.« Die Mutter streichelte ihm über den Kopf, während sich der Kloß in Lenas Hals wieder vergrößerte.
»Was ist mit ihm?«, fragte sie heiser. »Wieso sagt er nichts?«
»Ach, eigentlich geht es ihm gut, er spricht nur einfach nicht mehr.«
»Wieso spricht er nicht mehr?«
»Kurt, geh zu Elisabeth und hol uns etwas Suppe. Wir haben
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