Die Hure von Rom - Walz, E: Hure von Rom
sah, war nicht die Gegenwart. Er sah sich selbst, wie er mit Giorgio und Rinaldo, seinen besten Freunden, die Mückenlarven in den Regenfässern ärgerte; er sah flimmerndes Pflaster im Juli, das so heiß war, dass man sich die blanken Füße darauf verbrannt hätte, und den Schnee im Januar, in den sie sich mit Wonne hineinwarfen. Er sah, wie er seine diversen Freundinnen an die Hausmauer des Palazzo drückte, sie küsste und ihnen hübsche Nichtigkeiten ins Ohr flüsterte. Und er sah sich mit seiner Mutter die kleine Kapelle auf der anderen Straßenseite betreten, wo sie Kerzen für die Verstorbenen entzündeten und eine Weile schweigend nebeneinander knieten.
»Nicht schlecht, Carissimi.« Forli riss ihn aus seinen Erinnerungen. »Wusste gar nicht, wie reich Eure Familie ist.«
»Ich wusste es auch nicht«, entgegnete er.
Eine junge Frau öffnete ihnen, die für eine Dienerin zu fein und vor allem zu fromm gekleidet war. Das schwarze, bis zum Hals geschlossene Kleid ließ ihre ohnehin unscheinbaren Gesichtszüge noch reizloser erscheinen, aber sie wirkte keineswegs streng wie die meisten anderen Frauen in solchen gottesfürchtigen Kleidern. Mit einem sehr sanften Lächeln musterte sie Sandro und Forli.
»Bitte tretet ein, ehrwürdiger Vater«, sagte sie und knickste demütig, begleitet von einem kränklichen Husten. »Wir haben Euch bereits erwartet.«
Sandro hatte vor dem Gespräch mit Quirini vom Vatikan aus einen Boten hierhergeschickt, der sein Kommen ankündigen sollte. Er hatte eine Weile hin und her überlegt, welche Worte er für diese kurze Botschaft wählen sollte, denn er
wollte weder zu emotional noch zu schroff klingen, aber alles, was ihm einfiel, tendierte in die eine oder andere Richtung – jedenfalls kam ihm das so vor. Nachdem ihm auch die vierte Notiz nicht zugesagt hatte und der Novize, der die Botschaft zustellen sollte, ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Unverständnis ansah, schrieb er: »An Don Alfonso Carissimi. Ich werde heute am späten Nachmittag in einer dringenden geistlichen Angelegenheit im Palazzo Carissimi in der Via Domitilla erscheinen. Ich bitte um Anwesenheit.« Den letzten Satz hatte er wieder durchgestrichen, was, wie er danach fand, noch idiotischer war, als wenn er ihn stehen gelassen hätte. Er war froh gewesen, als die vermaledeite Botschaft endlich unterwegs war und sich an der Wortwahl nichts mehr ändern ließ.
Das Atrium, in das sie eintraten, war ein quadratischer, marmorschimmernder Saal, der sich bis zum Dach hin öffnete. Eine breite Freitreppe, die sich nach zwei Seiten teilte, konkurrierte als Blickfang mit zwei Monumentalgemälden von Tintoretto.
Sandro kannte diesen Raum nicht. Offensichtlich war der gesamte Palazzo irgendwann in den vergangenen acht Jahren fast vollständig ausgehöhlt und neu konzipiert worden. Die frühere Ausstattung, die damals einen gediegenen, leicht wohlhabenden Charakter ausstrahlte, war durch das Gepränge eines fast adeligen Stils ersetzt worden.
Sie folgten der unbekannten Frau mit einigen Schritten Abstand durch eine Flucht ineinander übergehender Zimmer, die alle mit Samt in verschiedenen Farben ausgeschlagen waren und vor Kristalllüstern nur so blinkten. Sie kamen an einem Gemälde vorbei, das seine Eltern in Lebensgröße zeigte. Sandro erschrak ein wenig, glücklicherweise für Forli nicht sichtbar, denn dieses Erschrecken fand tief in ihm statt. Was er sah, als er diese Eltern betrachtete, waren nicht Vater und Mutter, sondern Alfonso und Elisa Carissimi, zwei Vornehme mit starren
Mienen. Wo war das schlaue, vergnügte Kaufmannsgesicht seines Vaters geblieben, wo die Güte in den Gesten seiner Mutter? Alfonsos Bart war vollständig grau und dicht, und dahinter war keine Freude mehr zu erkennen. Er stand neben einer purpurnen Recamiere, in der Pose, die Feldherren einnehmen, wenn man sie porträtiert: Die eine Hand ruhte auf einer Landkarte mit der Darstellung der Erde, die andere lag an der Hüfte, wo ein Dolch mit den eingravierten Initialen AC befestigt war.
Sandros Aufmerksamkeit galt jedoch Elisa. Ihre Haltung war perfekt, von enormer Körperbeherrschung. Reglos saß sie auf der Recamiere, eingehüllt in ein schwarzes Kleid mit hohem Kragen, sehr ähnlich dem der Frau, die die Tür geöffnet hatte. Um Elisas Hals hing eine silbergraue Perlenkette, deren Glieder fast bis zum Schoß reichten, wo ihre braunen, faltigen Hände eine Madonna umschlossen. Die Korpulenz Elisas, verbunden mit der Leblosigkeit
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