Die Hure von Rom - Walz, E: Hure von Rom
geistigen Augen ablief. Die Lichtlache auf seinem Haupt erlosch, weil sich eine Wolke vor die Sonne schob.
»Ihr habt die Kette schon einmal gesehen, Eure Heiligkeit?«, fragte Sandro.
Julius erhob sich und wandte Sandro, zum Fenster schreitend, den Rücken zu. Nachdem vorhin schon seine ganze päpstliche Unanfechtbarkeit zusammengebrochen war, brach nun auch noch seine Stimme ein. Sie zerbröselte, zersplitterte in Vokale, die nur noch notdürftig durch Konsonanten verbunden wurden.
»Nein. Ich habe sie noch nie gesehen.« Er wandte sich plötzlich zu Sandro um und sah ihm in die Augen, als wolle er überprüfen, ob Sandro ihm glaubte.
Sandro reagierte intuitiv. Am liebsten hätte er die Augen gesenkt, um dem abschätzenden Blick des Papstes auszuweichen. Doch das wäre wie ein Bekenntnis des Argwohns gewesen.
Er erwiderte den Blick, hielt ihm stand. »Ich danke Eurer Heiligkeit für die Offenheit und das Vertrauen.«
Sandro glaubte Julius nicht – jedenfalls nicht alles. Er glaubte nicht, dass die Kette dem Papst unbekannt war, und er glaubte nicht, dass der Papst Maddalena zuletzt in der Nacht vor ihrem Tod gesehen hatte. Seine Heiligkeit log ihn an. Zu welchem
Zweck, wenn er nicht der Täter war? Doch was wäre das für ein merkwürdiger Täter, der ohne zwingenden Grund einen Ermittler auf sich selbst ansetzte?
Jedem anderen Verdächtigen konnte Sandro die Lügen um die Ohren schlagen, wie er es bei seinem Vater getan hatte. Beim Heiligen Vater allerdings empfahl sich diese Methode nicht. Aus dem Gespräch mit Julius ergaben sich für Sandro mehr Fragen, als er Antworten erhalten hatte, Fragen, die er wohl oder übel noch eine Weile mit sich herumschleppen musste.
Julius schritt in seinen Privatgemächern auf und ab. Das Gesicht dieser Frau, der er bei Carissimi begegnet war, ließ ihm keine Ruhe. Er hätte wahrlich genug anderes gehabt, über das er sich den Kopf zerbrechen konnte, und trotzdem ließ ihn der Gedanke an diese Frau nicht mehr los. Ihre Augen... Er hatte diese Augen schon einmal gesehen. Sie erinnerten ihn an etwas, an irgendetwas Unangenehmes, das vor langer Zeit geschehen war, in den Jahren der ersten Dämonen, seiner ersten großen Sünden.
Ehrgeiz war seine Ursünde gewesen, der Stamm, von dem aus sich alles folgende Unrecht verzweigte und wieder verzweigte, bis es eine gigantische Krone aus Schuld bildete. In seinen jungen Jahren, als Student der kirchlichen und weltlichen Rechtswissenschaften und später als Kammerherr und Kurialjurist, hatte er kaum Ehrgeiz besessen. Natürlich hatte er Karriere machen wollen, aber mit der Erreichung des Titels eines Kurialjuristen wäre er vollends zufrieden gewesen. Doch sein Onkel, der Kardinal war, trieb ihn weiter, indem er ihn zu seinem Nachfolger als Erzbischof von Siponto machte. Julius war besten Willens gewesen, sein hohes Amt zu nutzen, um Gutes zu tun, und anfangs gelang ihm das auf eindrückliche Weise. Er ließ Armenhäuser bauen und unterstützte tatkräftig
den Orden der Jesuiten, der sich der Schwachen und Ungebildeten annahm. Irgendwann jedoch gelang es seinem Onkel, eine andere Seite in ihm zu wecken. Er holte Julius immer öfter nach Rom, führte ihn nach und nach in die Kreise der Kurienkardinäle ein und ließ ihn die vergnüglichen Seiten des römischen Prälatenlebens kosten. Frauen traten in sein Leben, die Nächte wurden wichtiger als die Tage. Die Hoffnung, eines Tages als Kurienkardinal in den Vatikan berufen zu werden, nahm von Monat zu Monat einen größeren Platz in seinem Leben ein, und irgendwann wurde ihm klar, dass Armenhäuser zwar den Armen Freude bereitet, den einflussreichen Klüngel um den Papst jedoch nicht beeindruckten. In der Kurie gab es damals viele, denen eine Stärkung der römischen Inquisition am Herzen lag, also wurden fortan auf Julius’ Geheiß die Inquisitionsgerichte im Erzbistum Siponto zahlenmä ßig verstärkt. Eine Lawine von Prozessen wurde losgetreten, mit zum Teil haarsträubenden Auswüchsen. Das waren die Tage der ersten Dämonen.
Die Versetzung nach Rom folgte schon bald. Doch was eigentlich Glück in Julius’ Leben bringen sollte, brachte nur vergängliche, allzu flüchtige Beglückung: ein zufriedenes Nicken des Onkels, bisweilen ein verbales Schulterklopfen des Papstes, den albernen Stolz über weitere Karriereschritte und Erfolge, falsche Freunde und die »Bekanntschaft« mit ein paar Frauen, tausend Feste – welke Freuden, die nicht viel länger als eine Nacht
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