Die Hyäne
sich der letzte bewahrheitet hatte.
Carrie hoffte, daß sich ihre Ängste nicht erfüllten. Nur kochte diese Hoffnung auf sehr kleiner Flamme. Das andere Gefühl war wesentlich stärker. Es bestand aus Gedanken, und diese wiederum drehten sich einzig und allein um Collin.
Er lag nicht mehr in seinem Grab. Er war ihm entstiegen oder herausgeholt worden. Er irrte nun durch die Gegend, durch die Dunkelheit des Abends, hinein in die anbrechende Nacht. Ziellos?
Auf diese Frage wußte Carrie de Baker keine Antwort. Sie befürchtete das Schlimmste, und ihre Hände verkrampften sich zu Fäusten, als sie den Gedanken weiterspann.
Nicht ziellos. Selbst Mutationen wie Collin mußten ein Ziel haben. Sie existierten, aber Collin selbst hatte ihnen eine Botschaft geschickt, in Form dieser schrecklichen Alpträume, die seinen Vater so brutal überfallen hatten.
Carrie überlegte, ob sie das schon als eine Botschaft oder Vorwarnung auffassen sollte. Es konnte durchaus sein, denn zu seinem Grab würde Collin sicherlich nicht zurückkehren. Was sollte er dort? Er war ihm entkommen, mit Welcher Hilfe auch immer.
»Hilfe«, flüsterte die Frau. Sie hatte dabei ihren Atem ausgestoßen und schaute zu, wie die Scheibe beschlug. Hatte er früher, zu seinen Lebzeiten, Hilfe gebraucht?
Von seinen Eltern wohl kaum. Er war unterwegs gewesen. Bei seinen Freunden, auch im Fitneß-Center, wo sie sich getroffen hatten.
Nächtelang war er unterwegs gewesen und hatte sich immer stärker verändert. Nicht mehr das Elternhaus, sondern die neuen Freunde waren seine Welt gewesen. Es konnte durchaus sein, daß er dorthin wieder zurückkehrte.
Carrie de Baker überlegte weiter. Hatte es Sinn, wenn sie dort anrief und die Leute warnte?
Nein, es hatte keinen Sinn, denn die würden sie nur auslachen. Was sie zu sagen hatte, das konnte man einfach nicht glauben. Das war so gut wie unmöglich. Also stellte sie diesen Vorsatz wieder weit weg.
Die Frau blickte in den kleinen Hof. Er war leer. Das heißt, es spielten keine Kinder in dem engen Geviert. Im Sommer sah es anders aus, da wurden dann Stühle und Bänke geholt, aber zu dieser Jahreszeit wirkte alles grau. So hatte auch niemand etwas dagegen, wenn die de Bakers für eine gewisse Weile ihr Leergut dort abstellten. Ihr nur zweistöckiges Haus paßte nicht so ganz in die Umgebung, in der alle anderen Häuser höher gebaut worden waren. Es war eine kleine, eine harmonische Welt, die leider vor sechs Monaten durch Collins Selbstmord einen Riß bekommen hatte.
Über den Selbstmord ihres Sohnes kam Carrie nicht hinweg. In der letzten Woche hatte sie sich sogar intensiver mit diesem Problem beschäftigt. Sich Bücher besorgt und durchgeackert, so daß ihr Mann beinahe aus der Haut gefahren wäre, weil sie nur noch dieses eine Thema gekannt hatte. Sie hatte sich halt Klarheit verschaffen wollen.
Niemand sprang grundlos in den Tod! Da gab es immer wieder Motive, aber bei ihrem eigenen Sohn hatte sie leider keines gefunden.
Trotzdem war sie von Schuldgefühlen übermannt worden. Tabletten hatten dagegen nur bedingt geholfen, und jetzt war wieder alles erneut hochgekocht.
»Er lebt«, flüsterte sie ihrem schwachen Spiegelbild in der Scheibe zu.
»Er lebt, und er ist unterwegs. Mein Gott, was soll ich denn dagegen tun?«
Carrie wußte sich keinen Rat. Sie senkte den Kopf. Der bittere Geschmack blieb in ihrem Mund, und die Furcht vor der herannahenden Dunkelheit verstärkte sich.
Da traf es sich gut, daß sie von draußen her die Schritte ihres Mannes hörte. Er kam die alte Holztreppe hoch, die den Laden mit der Wohnung verband. Die Tür zum ersten Stockwerk hatte sie nicht geschlossen, und so hörte sie, wie ihr Mann die Wohnung betrat und im Flur stehenblieb.
Sie wußte, daß er dort seinen Kittel ausziehen und aufhängen würde.
Wenig später betrat er die Küche, blieb stehen und wunderte sich hörbar. »Du bist hier im Dunkeln?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich brauche kein Licht.«
Er kam näher. Carrie sah auch ihn in der Scheibe. Zum Anfassen nahe blieb er hinter ihr stehen und legte seine Arme seitlich gegen ihre runden Schultern. »Was ist wirklich los mit dir, Carrie?«
Sie verzog den Mund. »Kannst du dir das nicht denken?«
Mel seufzte. Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr entlangstreiften. »Ja, das kann ich mir denken, denn mir ergeht es nicht anders. Deine Gedanken drehen sich um Collin.«
»Deine nicht?«
»Doch.«
Carrie atmete laut durch die Nase ein. »Und? Hast du schon eine
Weitere Kostenlose Bücher