Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
König Billy die Stadt der Dichter evakuierte. Manche der Evakuierten gingen nach Endymion oder Keats oder in eine andere der neuen Städte, aber die meisten beschlossen, mit dem Saatschiff ins Netz zurückzureisen. König Billys Traum von einem kreativen Utopia starb, doch der König selbst lebte weiterhin in seinem düsteren Palast in Keats. Die Regierungsgewalt über die Kolonie ging an den Heimat-Regierungsrat, der sich sofort um Mitgliedschaft in der Hegemonie bewarb und eine Selbstschutztruppe gründete. Die SST – die weitgehend aus denselben Eingeborenen bestand, die sich vor einem Jahrzehnt noch selbst mit Keulen erschlagen hatten, nun aber von selbsternannten Offizieren unserer Kolonie befehligt wurden – störte lediglich die friedliche Nachtruhe mit ihren automatischen Gleiterflügen und verunstaltete die Schönheit der wiederkehrenden Wüste mit ihren mobilen Beobachtungs-Mechs.
Überraschenderweise war ich nicht der einzige, der blieb; mindestens zweihundert verweilten ebenfalls, aber wir vermieden weitestgehend gesellschaftliche Kontakte, lächelten einander höflich zu, wenn wir uns auf der Straße der Dichter begegneten oder für uns sitzend in der hallenden Leere der Speisekuppel aßen.
Morde und Verschwinden gingen weiter, im Durchschnitt etwa einer alle vierzehn lokalen Tage, doch wurden die Opfer für gewöhnlich nicht von uns gefunden, sondern vom regionalen SST-Kommandanten, der alle paar Wochen auf einer Zählung der Bevölkerung bestand.
Das Bild, welches mir von dieser Zeit am deutlichsten im Gedächtnis geblieben ist, ist ein ungewöhnlich gemeinschaftliches: die Nacht, in der wir uns alle auf dem Versammlungsplatz einfanden und zusahen, wie das Saatschiff startete. Es war zum Höhepunkt der herbstlichen Meteorsaison, Hyperions Nachthimmel leuchtete bereits in goldenen Streifen und rotem Flammengekritzel, als die Triebwerke des Saatschiffs zündeten und eine winzige Sonne aufging; danach beobachteten wir eine Stunde lang, wie Freunde und Künstlerkollegen als Schweif einer Fusionsflamme entschwanden. Der Traurige König Billy leistete uns in dieser Nacht Gesellschaft, und ich kann mich noch gut erinnern, daß er mich ansah, bevor er feierlich in seine prunkvolle Kutsche stieg, die ihn ins sichere Keats zurückbrachte.
In den darauffolgenden zwölf Jahren verließ ich die Stadt nur ein halbes dutzend Mal; einmal, um einen Biobildhauer zu suchen, der mir die Satyrauswüchse abnehmen konnte, die anderen Male, um Nahrungsmittel und Vorräte zu kaufen. Mittlerweile hatte der Tempel des Shrike die Pilgerfahrten zum Shrike wieder aufgenommen, und ich benützte bei meinen Ausflügen ihre Prachtstraße in den Tod in umgekehrter Richtung – zu Fuß zur Chronos Keep, Luftgleiter zum Bridle Range, Windwagen und dann die Charonbarke den Hoolie hinab. Wenn ich zurückkam, betrachtete ich die Pilger und fragte mich, wer überleben würde.
Wenige besuchten die Stadt der Dichter. Unsere halb vollendeten Ruinen sahen wie verfallene Ruinen aus. Die Galerien mit ihren prächtigen Kuppeln aus Metall und Glas wurden zunehmend von Reben überwuchert; Pyronesseln und Narbengras wuchsen aus den Fugen der Bodenplatten. Die SST trug ihren Teil zum Chaos bei, indem sie Minen und Fallen aufstellte, um das Shrike zu fangen, damit aber lediglich einstmals schöne Teile der Stadt verwüstete. Die Bewässerung brach zusammen. Der Aquädukt stürzte ein. Die Wüste rückte näher. Ich zog in König Billys verlassenem Palast von einem Saal zum anderen, arbeitete an meinem Gedicht und wartete darauf, daß meine Muse kommen würde.
Wenn man darüber nachdenkt, erinnern Ursache und Wirkung einer verrückten Logikschleife des Datenkünstlers Carolus oder einem Druck von Escher: Das Shrike war durch die beschwörende Kraft meines Gedichts ins Leben gerufen worden, aber das Gedicht hätte ohne die Bedrohung/Präsenz des Shrike als Muse nicht existieren können. Vielleicht war ich damals ein bißchen verrückt.
Innerhalb eines Dutzends Jahren dezimierte der plötzliche Tod die Stadt der Dilettanten, bis nur noch das Shrike und ich übrig blieben. Der jährliche Pilgerzug zum Shrike war ein geringes Ärgernis, eine ferne Karawane, die durch die Wüste zu den Zeitgräbern zog. Manchmal kamen einige wenige Gestalten zurück und flohen über scharlachroten Sand in den Schutz der zwanzig Kilometer südwestlich gelegenen Chronos Keep. Häufiger kam gar niemand zurück.
Ich verfolgte alles aus dem Schatten der Stadt.
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