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Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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zuckenden Nervenimpulse und lehnte mich stützend an die Steinbank. »Bitte.«
    Die dritte Gestalt tauchte nicht auf, sondern ließ vielmehr zu, daß sich ihre Anwesenheit meinem Bewußtsein kundtat; es war, als wäre sie immer da gewesen, nur hatten König Billy und ich sie nicht bemerkt, bis die Flammen hell genug gewesen waren. Unmöglich groß, vierarmig, aus Chrom und Knorpel gegossen – so wandte das Shrike seinen roten Blick auf uns.
    König Billy stöhnte, trat zurück und ging sofort wieder einen Schritt vor, um weitere Gesänge den Flammen zu übergeben. Glühende Schnipsel stiegen auf warmen Winden empor. Ein Schwarm Tauben flatterte mit lautem Flügelschlag von den umrankten Gittern der verfallenen Kuppel.
    Ich bewegte mich mit einer Bewegung nach vorne, die mehr Sprung als Schritt war. Das Shrike bewegte sich nicht, wandte den blutigen Blick nicht ab.
    »Geh!« schrie König Billy, dessen Stottern vergessen und dessen Stimme aufgeregt war; er hielt einen brennenden Stapel des Gedichts in jeder Hand. »Zurück in die Grube, aus der du gekrochen bist!«
    Das Shrike schien den Kopf unmerklich zu neigen. Rotes Licht glomm auf scharfkantigen Oberflächen.
    »Mein Lord!« schrie ich, aber ich wußte damals wie heute nicht, ob zu König Billy oder der Erscheinung aus der Hölle. Ich stolperte die letzten paar Schritte und griff nach Billys Arm.
    Er war nicht da. Eben war der alternde König noch eine Handbreit vor mir, und im nächsten Augenblick war er zehn Meter entfernt und hoch über dem Kopfsteinpflaster des Innenhofs. Finger wie stählerne Dornen durchbohrten seine Arme, die Brust und die Schenkel, aber er wand sich noch, und meine Gesänge brannten in seinen Händen. Das Shrike hielt ihn hoch wie ein Vater, der seinen Sohn zur Taufe reicht.
    »Vernichten Sie es!« schrie Billy und machte bemitleidenswerte Gesten mit den durchbohrten Armen. »Vernichten Sie es!«
    Ich blieb am Brunnenrand stehen und torkelte erschöpft gegen den Sims. Zuerst dachte ich, er meinte das Shrike vernichten ... dann dachte ich, er meinte das Gedicht ... und dann wurde mir klar, daß er beides gemeint hatte. Tausend Manuskriptseiten oder mehr lagen durcheinander in dem trockenen Brunnen. Ich nahm den Petroleumeimer.
    Das Shrike bewegte sich nicht, es zog König Billy lediglich langsam an die Brust – eine Bewegung, die seltsam zärtlich aussah. Billy wand sich und schrie lautlos, als ein langer Stachel dicht über dem Brustbein durch die Harlekinsseide stieß. Ich stand benommen da und mußte an die Schmetterlinge denken, die ich als Kind gesammelt hatte. Langsam und mechanisch schüttete ich Petroleum über die verstreuten Seiten.
    »Machen Sie ihm ein Ende!« stöhnte König Billy. »Martin, bei der Barmherzigkeit Gottes!«
    Ich hob das Feuerzeug auf, das er fallengelassen hatte. Das Shrike bewegte sich nicht. Blut tränkte die schwarzen Stellen von Billys Gewand, bis sie mit den bereits vorhandenen scharlachroten Flicken verschmolzen. Ich drehte das uralte Feuerzeug einmal mit dem Daumen, zweimal, dreimal; nur Funken. Durch meine Tränen konnte ich mein Lebenswerk in dem staubigen Brunnen liegen sehen. Ich ließ das Feuerzeug fallen.
    Billy schrie. Ich hörte vage Klingen, die durch knackende Knochen fuhren, während er sich in der Umarmung des Shrike wand. »Machen Sie ein Ende!« schrie er. »Martin ... O Gott!«
    Da drehte ich mich um, lief fünf Schritte und warf den halb vollen Eimer Petroleum. Dämpfe machten meine ohnedies verschwommene Sicht noch verschwommener. Billy und das unmögliche Geschöpf, das ihn hielt, waren durchnäßt wie zwei Komiker in einem Slapstikholie. Ich sah, wie Billy blinzelte und prustete, sah die Feuchtigkeit auf der Schnauze des Shrike den meteorgleißenden Himmel reflektieren, und dann entzündeten die schwelenden Seiten in Billys Fäusten das Petroleum.
    Ich hob die Hände, um das Gesicht zu schützen – zu spät, Bart und Augenbrauen schmorten und sengten –, und taumelte zurück, bis mich der Rand des Brunnens aufhielt.
    Für einen Augenblick war der Scheiterhaufen eine perfekte Skulptur aus Flammen, eine blaue und gelbe Pietà mit einer vierarmigen Madonna, die eine brennende Christusgestalt hielt. Dann wandte sich die brennende Gestalt, die immer noch von den stählernen Dornen und mehreren skalpellgleichen Klauen gehalten wurde, und zuckte, und ein Schrei gellte. Bis zum heutigen Tag kann ich nicht glauben, daß dieser Schrei von der menschlichen Hälfte dieses Paars im Todeskampf

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