Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
selbst, was dann passiert.«
»Was ...«, begann Sol, dann mußte er sich räuspern. »Was sollen wir tun, Kleines?«
Rachel sah ihm in die Augen und lächelte. Es war dasselbe Lächeln, mit dem sie ihn seit der fünften Woche nach ihrer Geburt glücklich machte. »Sag es mir nicht, Dad«, sagte sie fest. »Laß nicht zu, daß ich es mir erzähle. Es tut mir weh. Ich meine, ich habe das alles nicht erlebt ...« Sie machte eine Pause und griff sich an die Stirn. »Du weißt, was ich meine, Dad. Die Rachel, die einen anderen Planeten besuchte, sich verliebte und verletzt wurde ... das war eine andere Rachel! Ich sollte ihre Qualen nicht erdulden müssen.« Jetzt weinte sie. »Verstehst du das? Verstehst du?«
»Ja«, sagte Sol. Er breitete die Arme aus und spürte warme Tränen an der Brust. »Ja, das verstehe ich.«
In Verlauf des nächsten Jahres trafen gelegentlich Fatlinebotschaften von Hyperion ein, aber sie waren alle negativ. Natur und Quelle der Anti-Entropiefelder waren nicht entdeckt worden. Keine ungewöhnlichen Aktivitäten der Zeitgezeiten waren um die Sphinx herum festgestellt worden. Experimente mit Labortieren in und um die Gezeiten der Zeit hatten zum plötzlichen Tod einiger Tiere geführt, aber Merlins Krankheit war nicht wieder aufgetreten. Melio beendete jede Übertragung mit: »Alles Liebe für Rachel.«
Sol und Sarai verwendeten Geld, das sie von der Universität geliehen hatten, für begrenzte Poulsen-Behandlungen in Bussard City. Sie waren schon so alt, daß der Prozeß ihr Leben nicht mehr um ein Jahrhundert verlängern konnte, aber sie sahen wieder aus wie ein Paar, das auf fünfzig Standardjahre zuging, statt auf siebzig. Sie studierten alte Familienfotos und stellten fest, daß es gar nicht so schwierig war, sich so anzuziehen wie vor anderthalb Jahrzehnten.
Die sechzehnjährige Rachel kam die Treppe heruntergehüpft und hatte das Komlog auf den Collegekanal eingestellt. »Kann ich Reiskrispies haben?«
»Bekommst du die nicht jeden Morgen?« fragte Sarai.
»Ja«, sagte Rachel lächelnd. »Ich habe nur gedacht, sie könnten vielleicht ausgegangen sein. Ich habe das Telefon gehört. War das Niki?«
»Nein«, sagte Sol.
»Verdammt«, sagte Rachel und sah sie an. »Entschuldigung. Aber sie hat versprochen, sie würde anrufen, sobald die Zensuren reinkommen. Die Prüfungen sind eine Woche her. Man sollte meinen, daß ich bis jetzt etwas gehört haben müßte.«
»Keine Bange«, sagte Sarai. Sie brachte die Kaffeekanne zum Tisch. »Ich verspreche dir, deine Noten werden so gut sein, daß dich jede Schule nimmt, die du willst.«
»Mom«, seufzte Rachel, »das weißt du doch nicht. Da draußen heißt es fressen oder gefressen werden.« Sie runzelte die Stirn. »Hast du mein Mathebuch gesehen? Mein Zimmer ist völlig durcheinander. Ich konnte überhaupt nichts finden.«
Sol räusperte sich. »Heute ist kein Unterricht, Kleines.«
Rachel sah ihn an. »Kein Unterricht? Dienstags? Sechs Wochen vor der Abschlußprüfung? Was ist los?«
»Du warst krank«, sagte Sarai fest. »Du kannst einen Tag daheim bleiben. Nur heute.«
Rachel runzelte die Stirn. »Krank? Ich fühle mich nicht krank. Nur irgendwie unheimlich. Als wäre alles ... alles irgendwie nicht richtig. Zum Beispiel, warum ist das Sofa im Medienzimmer verschoben? Und wo ist Chips? Ich habe dauernd gerufen, aber er ist nicht gekommen.«
Sol nahm seine Tochter am Handgelenk. »Du bist schon eine Weile krank«, sagte er. »Der Arzt hat gesagt, du könntest mit ein paar Gedächtnislücken aufwachen. Reden wir, während wir zum Campus gehen. Hast du Lust?«
Rachel strahlte. »Den Unterricht ausfallen zu lassen und zum College zu gehen? Klar doch!« Sie heuchelte Konsterniertheit. »Solange wir Roger Sherman nicht über den Weg laufen. Er belegt Matheanfängerkurse dort und ist ein Ekel.«
»Wir werden Roger nicht sehen«, sagte Sol. »Fertig?« – »Fast.« Rachel beugte sich zu ihrer Mutter und nahm sie in den Arm. »'Later, alligator.«
»'While, crocodile«, sagte Sarai.
»Okay«, sagte Rachel grinsend, deren langes Haar wippte. »Jetzt bin ich fertig.«
Die ständigen Ausflüge nach Bussard City hatten die Anschaffung eines EMV erforderlich gemacht, und eines Tages im Herbst nahm Sol die langsamste Route weit unter den Verkehrsebenen und genoß Anblick und Geruch der abgeernteten Felder unten. Zahlreiche Männer und Frauen, die auf den Feldern arbeiteten, winkten ihm zu.
Bussard war seit Sols Kindheit
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