Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
trinken? Ich muß über ein paar Dinge mit dir reden.«
Sol holte die Brille vom Nachttisch und ging mit ihr nach unten.
Es wurde das erste und einzige Mal, daß sich Sol mit seiner Tochter betrank. Es war kein ausgelassenes Zechgelage – sie unterhielten sich eine Weile, dann erzählten sie Witze und machten Wortspiele, bis sie beide so sehr kicherten, daß sie nicht mehr weitermachen konnten. Rachel fing eine neue Geschichte an, trank beim komischsten Teil einen Schluck und prustete fast Whiskey durch die Nase, so sehr mußte sie lachen. Beide fanden, das war das Komischste, das je passiert war.
»Ich hole noch eine Flasche«, sagte Sol, als seine Tränen versiegt waren. »Dekan Moore hat mir letzte Weihnachten Whiskey geschenkt ... glaube ich.«
Als er vorsichtigen Schrittes zurückgekehrt war, saß Rachel aufrecht auf dem Sofa und strich sich mit den Fingern das Haar zurück. Er schenkte ihr etwas ein, dann saßen sie beide eine Weile schweigend da und tranken.
»Daddy?«
»Ja?«
»Ich bin alles durchgegangen. Ich habe mich gesehen, mich gehört, habe die Holos von Linna und den anderen gesehen ... alle in der Lebensmitte ...«
»Das wohl kaum«, sagte Sol. »Linna wird nächsten Monat fünfunddreißig ...«
»Nun, alt, du weißt schon, was ich meine. Wie auch immer, ich habe die medizinischen Gutachten gelesen, habe die Fotos von Hyperion gesehen, und weißt du was?«
»Was?«
»Ich glaube es nicht, Dad.«
Sol stellte das Glas hin und sah seine Tochter an. Ihr Gesicht war rundlicher als vorher, nicht so gebildet. Aber noch viel schöner.
»Ich meine, ich glaube es schon«, sagte sie mit einem kurzen, ängstlichen Lächeln. »Nicht, daß du und Mom mir so einen grausamen Streich spielen würdet. Dann ist da euer ... euer Alter ... und die Nachrichten und alles. Ich weiß, es ist echt, aber ich kann es nicht glauben. Weißt du, was ich meine, Dad?«
»Ja«, sagte Sol.
»Ich meine, ich bin heute morgen aufgewacht und habe mir gedacht: Toll ... morgen das Paläontologieexamen, und ich habe kaum etwas gelernt. Ich habe mich darauf gefreut, Roger Sherman eins auszuwischen ... er hält sich für so klug.«
Sol trank einen Schluck. »Roger ist vor drei Jahren bei einem Flugzeugunglück südlich von Bussard ums Leben gekommen«, sagte er. Ohne den Whiskey in sich hätte er das nie gesagt, aber er mußte herausfinden, ob es eine Rachel gab, die sich in Rachel versteckte.
»Ich weiß«, sagte Rachel und zog die Knie unters Kinn. »Ich habe alle nachgeschlagen, die ich gekannt habe. Gram ist tot. Professor Eikhardt unterrichtet nicht mehr. Niki hat einen ... Vertreter geheiratet. In vier Jahren passiert viel.«
»Über elf Jahre«, sagte Sol. »Durch den Ausflug nach und von Hyperion bist du uns Zurückgebliebenen sechs Jahre hinterher.«
»Aber das ist normal«, rief Rachel. »Die Leute reisen ständig außerhalb des Netzes. Sie werden damit fertig.«
Sol nickte. »Aber dies ist etwas anderes, Kleines.«
Rachel brachte ein Lächeln zustande und trank den Rest ihres Whiskeys leer. »Mann, was für eine Untertreibung.« Sie stellte das Glas mit einem klirrenden, endgültigen Laut ab. »Hör zu, ich habe folgende Entscheidung getroffen. Ich habe zwei Tage damit verbracht, alles durchzugehen, das sie ... ich ... vorbereitet hatte, um mich zu informieren, was passiert ist, was abgeht ... und es hilft einfach nichts.«
Sol saß völlig reglos da und wagte nicht einmal zu atmen.
»Ich meine«, sagte Rachel, »zu wissen, daß ich jeden Tag jünger werde und die Erinnerung an Menschen verliere, die ich noch nicht einmal kennengelernt habe ... ich meine, was passiert als nächstes? Werde ich immer jünger und kleiner und hilfloser, bis ich eines Tages verschwinde? Herrgott, Dad!« Rachel schlang die Arme fester um die Knie. »Auf eine unheimliche Weise ist es richtig komisch, was?«
»Nein«, sagte Sol leise.
»Nein, sicher nicht«, sagte Rachel. Ihre Augen, groß und dunkel, waren feucht. »Für dich und Mom muß es der schrecklichste Alptraum der Welt sein. Jeden Tag müßt ihr mitansehen, wie ich die Treppe herunterkomme ... verwirrt ... ich wache mit den Erinnerungen an gestern auf, höre aber meine eigene Stimme, die mir sagt, daß gestern Jahre zurückliegt. Daß ich eine Affäre mit einem Mann namens Amelio hatte ...«
»Melio«, flüsterte Sol.
»Wie auch immer. Es hilft nichts, Dad. Bis ich alles verarbeitet habe, bin ich so erschöpft, daß ich schlafen muß ... Und dann ... nun, du weißt ja
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