Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
»Titel sind unwichtig, M. Weintraub. Uns mit ›Eure Exzellenz‹ anzureden, ist für einen Ungläubigen durchaus angemessen. Wir müssen Sie jedoch darauf hinweisen, daß der offizielle Name unserer bescheidenen Gruppe Kirche der Letzten Buße lautet und das Wesen, welches die Welt so unbeachtet ... das Shrike ... nennt ... für uns ... wenn wir seinen Namen überhaupt aussprechen ... der Herr der Schmerzen oder, gebräuchlicher, das Avatar, heißt. Bitte tragen Sie nun die wichtige Anfrage vor, die Sie laut eigenem Bekunden an uns haben.«
Sol verbeugte sich. »Eure Exzellenz, ich bin Lehrer ...«
»Verzeihen Sie, wenn wir unterbrechen, M. Weintraub, aber Sie sind viel mehr als ein Lehrer. Sie sind Gelehrter. Wir sind vertraut mit Ihren Schriften über moralische Hermeneutik. Die Beweisführung darin ist fehlerhaft, aber dennoch eine Herausforderung. Wir benützen sie regelmäßig in unseren Kursen über doktrinale Apologetik. Bitte fahren Sie fort.«
Sol blinzelte. Sein Werk war außerhalb der engsten akademischen Kreise so gut wie unbekannt, daher brachte diese Äußerung ihn aus der Fassung. In den fünf Sekunden, die er brauchte, um sich zu erholen, zog Sol es vor zu glauben, daß der Shrike-Bischof wissen wollte, mit wem er sprach, und einen exzellenten Mitarbeiterstab hatte. »Eure Exzellenz, mein Hintergrund tut nichts zur Sache. Ich wollte Euch sprechen, weil mein Kind ... meine Tochter ... als mögliche Folge von Forschungen krank wurde, die sie in einem Gebiet durchführte, das für Ihre Kirche nicht unbedeutend ist. Ich spreche selbstverständlich von den sogenannten Zeitgräbern auf der Welt Hyperion.«
Der Bischof nickte bedächtig. Sol fragte sich, ob er über Rachel Bescheid wußte.
»Ihnen ist bekannt, M. Weintraub, daß das Gebiet, von dem Sie sprechen ... das wir als Bundeslade bezeichnen ... vor kurzem vom Heimat-Regierungsrat von Hyperion für Forscher zur verbotenen Zone erklärt worden ist?«
»Ja, Eure Exzellenz. Das habe ich gehört. Ich weiß, daß Ihre Kirche entscheidenden Einfluß darauf hatte, daß dieses Gesetz verabschiedet wurde.«
Der Bischof zeigte keine Reaktion. Weit entfernt in der weihrauchschwangeren Dunkelheit ertönte heller Glöckchenklang.
»Wie dem auch sei, Eure Exzellenz, ich hatte gehofft, daß ein Aspekt Ihrer Kirchendoktrin Licht auf die Krankheit meiner Tochter werfen könnte.«
Der Bischof beugte sich nach vorne, so daß der Lichtstrahl, der ihn beschien, auf seine Stirn leuchtete und die Augen in Schatten hüllte. »Möchten Sie religiöse Unterweisungen in die Geheimnisse der Kirche erhalten, M. Weintraub?«
Sol strich mit einem Finger über den Bart. »Nein, Eure Exzellenz, es sei denn, diese Vorgehensweise könnte das Befinden meiner Tochter verbessern.«
»Wünscht Ihre Tochter, in die Kirche der Letzten Buße geweiht zu werden?«
Sol zögerte einen Herzschlag lang. »Nochmals, Eure Exzellenz, sie möchte gesund werden. Wenn es sie heilen oder ihr helfen würde, der Kirche beizutreten, wäre dies einer sehr ernsthaften Überlegung wert.«
Der Bischof setzte sich mit raschelnden Gewändern zurück. Röte schien von ihm ausgehend in die Dunkelheit zu schweben. »Sie sprechen von körperlichem Wohlbefinden, M. Weintraub. Unsere Kirche ist der letzte Gebieter über die seelische Erlösung. Ist Ihnen klar, daß erstere weitgehend von letzterer abhängt?«
»Ich weiß, daß dies eine alte und weitgehend akzeptierte Ansicht ist«, sagte Sol. »Meine Frau und ich wollen das völlige Wohlbefinden unserer Tochter.«
Der Bischof stützte den kantigen Schädel auf die Faust. »Wie ist die Art der Krankheit Ihrer Tochter, M. Weintraub?«
»Es ist ... eine Krankheit, die mit der Zeit zusammenhängt, Eure Exzellenz.«
Der Bischof stand so schnell auf, daß die Papiere auf seinem Schreibtisch auf den Boden flatterten. Auch ohne die Robe wäre der Mann doppelt so schwer gewesen wie Sol. In dem wallenden roten Gewand stand der Priester nun völlig aufgerichtet da und ragte über Sol auf wie die Inkarnation des roten Todes. »Sie können gehen!« sagte der große Mann heftig. »Ihre Tochter ist das gesegnetste und verfluchteste Individuum. Weder Sie noch die Kirche ... noch eine andere Macht in diesem Leben ... können etwas für sie tun.«
Sol stand ... oder besser gesagt, saß ... seinen Mann. »Eure Exzellenz, wenn eine Möglichkeit besteht ...«
»NEIN!« brüllte der Bischof, der nun auch rot im Gesicht war, eine leidenschaftlich konsequente Erscheinung.
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