Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
braucht Kleider. Alles wird ihr zu groß. Was einer Achtjährigen paßt, paßt einer Siebenjährigen nicht. Ich habe hier noch irgendwo welche von ihren Sachen.«
»Laß doch«, sagte Sol. »Wir kaufen ihr etwas Neues.«
Sarai schüttelte den Kopf. »Damit sie sich jeden Tag fragt, wo ihre Lieblingskleider hin verschwunden sind? Nein. Ich habe ein paar Sachen aufgehoben. Sie müssen hier irgendwo sein.«
»Mach es später.«
»Verdammt, es gibt kein später!« brüllte Sarai und wandte sich von Sol ab und schlug die Hände vors Gesicht. »Tut mir leid.«
Sol legte die Arme um sie. Trotz der begrenzten Poulsen-Behandlung, waren ihre Arme dünner, als er in Erinnerung hatte. Knoten und Stränge unter der rauhen Haut. Er umarmte sie fest.
»Es tut mir leid«, sagte sie noch einmal und schluchzte unverhohlen. »Es ist einfach nicht recht.«
»Nein«, stimmte Sol zu. »Es ist nicht recht.« Das Sonnenlicht, das durch die staubigen Fenster hereinfiel, hatte etwas Trauriges, wie in einer Kathedrale. Sol hatte den Geruch des Dachbodens immer gemocht – das heiße und stickige Versprechen eines so wenig benützten und mit zukünftigen Schätzen vollgestopften Raums. Heute sah er nur Verfall.
Er kauerte sich neben einen Karton. »Komm, Liebes«, sagte er, »wir suchen gemeinsam.«
Rachel war auch weiterhin glücklich, nahm regen Anteil am Leben und war nur leicht durch Ungereimtheiten verwirrt, denen sie sich jeden Morgen nach dem Aufwachen gegenübersah. Je jünger sie wurde, desto leichter fiel es, die Veränderungen wegzuerklären, die scheinbar über Nacht stattgefunden hatten – daß die alte Ulme vor dem Haus fort war, das neue Mietshaus an der Ecke, wo Mr. Nesbitt in einer Villa aus der Kolonialzeit gelebt hatte –, und Sol erlebte wie noch niemals zuvor, wie flexibel Kinder sein konnten. Er stellte sich jetzt vor, wie Rachel auf dem Gipfel der Welle der Zeit ritt, die trüben Tiefen des Meeres dahinter nicht sah und das Gleichgewicht mit dem kleinen Archiv ihrer Erinnerungen und einer völligen Hingabe an die zwölf bis fünfzehn Stunden des Jetzt hielt, die ihr jeden Tag gegeben wurden.
Weder Sol noch Sarai wollten, daß ihre Tochter von anderen Kindern isoliert wurde, aber es war schwierig, Wege zu finden, einen Kontakt herzustellen. Rachel war entzückt, wenn sie mit dem ›neuen Mädchen‹ oder ›neuen Jungen‹ in der Nachbarschaft spielen konnte – den Kindern anderer Professoren, Enkel von Freunden, eine Zeitlang mit Nikis Tochter –, aber die anderen Kinder mußten sich daran gewöhnen, daß Rachel sie jeden Tag aufs neue kennenlernen mußte, sich nicht an ihre gemeinsame Vergangenheit erinnern konnte, und nur die wenigsten waren verständig genug, diesen Mummenschanz für eine Spielkameradin mitzumachen.
Die Geschichte von Rachels einmaliger Krankheit war in Crawford selbstverständlich kein Geheimnis. Die Neuigkeit hatte schon im ersten Jahr nach Rachels Rückkehr am College die Runde gemacht, wenig später wußte es die ganze Stadt. Crawford reagierte auf die Weise, wie Kleinstädter zu allen Zeiten auf so etwas reagiert haben – manche Münder standen nicht still, manche Menschen konnten Mitleid oder Schadenfreude angesichts des schlimmen Loses eines anderen nicht aus Blicken und Stimmen fernhalten –, aber ansonsten faltete die Gemeinde weitgehend ihre schützenden Fittiche um die Weintraubs wie eine linkische Vogelmutter, die ihr Junges beschützt.
Man ließ sie ihr Leben leben, und auch als Sol seinen Unterricht einschränken und schließlich in den vorzeitigen Ruhestand gehen mußte, weil er Reisen unternahm und medizinische Hilfe für Rachel suchte, wurde der Grund von niemandem erwähnt.
Aber das konnte selbstverständlich nicht von Dauer sein, und als Sol eines Frühlingstages auf die Veranda kam und seine siebenjährige Tochter weinend aus dem Park kommen sah, von einer Meute Reportern umringt, deren Kameraimplantate glänzten und die ihre Komlogs gezückt hatten, da wußte er, daß eine Phase ihres Lebens für immer vorbei war. Sol sprang von der Veranda und lief an Rachels Seite.
»M. Weintraub, stimmt es, daß sich Ihre Tochter eine tödliche Zeitkrankheit zugezogen hat? Was wird in sieben Jahren passieren? Wird sie einfach verschwinden?«
»M. Weintraub! M. Weintraub! Rachel sagt, sie ist der Meinung, Raben Dowell wäre Senatspräsident und dies das Jahr 2771 n. Chr. Hat sie vierunddreißig Jahre völlig verloren, oder ist das eine Täuschung, die durch Merlins Krankheit
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