Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
die Terrasse hinaus, wo Sarai wartete.
Rachel hatte mehr Spielkameraden denn je. Die Kibbuzkooperative hatte eine Schule, wo sie stets gern gesehener Gast war und jeden Tag neu begrüßt wurde. An den langen Nachmittagen spielten die Kinder in den Hainen oder gingen bei den Klippen auf Entdeckungsreise.
Avner, Robert und Ephraim, die Ratsältesten, bedrängten Sol, an seinem Buch zu arbeiten. Hebron war stolz auf die Vielzahl von Gelehrten, Künstlern, Musikern, Philosophen, Schriftstellern und Komponisten, die zu seinen Bürgern gehörten oder Dauergäste waren. Das Haus, bekräftigten sie, war ein Geschenk des Staates. Sols Pension war nach Maßstäben im Netz gering, reichte aber bei weitem für ihre bescheidenen Bedürfnisse in K'far Shalom aus. Aber Sol mußte zu seiner eigenen Überraschung feststellen, daß ihm körperliche Arbeit Spaß machte. Ob er in den Hainen arbeitete oder Steine auf unbebauten Feldern sammelte oder eine Mauer über der Stadt ausbesserte, Sol stellte fest, daß sein Geist und seine Seele so frei waren wie seit vielen Jahren nicht mehr. Er stellte fest, daß er sich mit Kierkegaard beschäftigen konnte, während er darauf wartete, daß der Mörtel trocknete, und neue Einsichten in Kant und Vandeur erlangen, während er die Äpfel sorgfältig nach Würmern absuchte. Im Alter von dreiundsiebzig Standardjahren bekam Sol seine ersten Schwielen.
Abends spielte er mit Rachel und ging dann mit Sarai auf den Hügeln spazieren, während Judy oder eines der anderen Mädchen aus der Nachbarschaft auf das schlafende Kind aufpaßten. Am Wochenende fuhren sie nach Neu Jerusalem, nur Sol und Sarai, und es war das erste Mal, daß sie allein etwas unternahmen, seit Rachel vor siebzehn Standardjahren zurückgekehrt war.
Aber nicht alles war idyllisch. Zu oft wachte Sol nachts auf, ging barfuß auf den Flur und sah Sarai, die die schlafende Rachel betrachtete. Und am Ende manch eines langen Tags, wenn er Rachel in der Keramikwanne badete oder sie ins Bett brachte, während die Mauern rosa leuchteten, sagte das Kind: »Es gefällt mir hier, Daddy, aber können wir morgen nach Hause gehen?« Und Sol nickte. Nach der Gutenachtgeschichte, dem Schlaflied und dem Gutenachtkuß, wenn er sicher war, daß sie schlief, schlich er auf Zehenspitzen zur Tür und hörte das gemurmelte »'Later, alligator« von der zugedeckten Gestalt im Bett, worauf er »'While, crocodile« antworten mußte. Und wenn er selbst im Bett lag, neben der leise atmenden, wahrscheinlich schlafenden Frau, die er liebte, beobachtete Sol, wie die Lichtstreifen von einem oder beiden der Monde Hebrons über die rauhen Wände wanderten, und sprach mit Gott.
Sol sprach einige Monate mit Gott, bis ihm klar wurde, was er da machte. Die Vorstellung erheiterte ihn. Die Dialoge waren keineswegs Gebete, sondern nahmen häufig die Form wütender Monologe an, die – kurz bevor sie in Schmähungen ausarteten – zu erbitterten Streitgesprächen mit sich selbst wurden. Aber nicht nur mit sich selbst. Sol wurde eines Tages klar, die Themen der hitzigen Debatten waren so profund, die Meinungsverschiedenheiten, die ausgetragen wurden, so ernst und die Themenvielfalt so breit, daß der einzige, dem er alle Unzulänglichkeiten vorwerfen konnte, Gott selbst war. Da die Vorstellung von Gott als Person, die nachts wach lag und sich Gedanken über die Menschen machte, Sol so durch und durch absurd erschien, ließ ihn der Gedanke an diese Zwiegespräche an seinem Verstand zweifeln.
Aber die Dialoge gingen weiter.
Sol wollte wissen, wie ein ethisches System – ganz zu schweigen von einer so unbezwinglichen Religion, die jedes Böse überlebt hatte, das die Menschheit ihr antun konnte – aus einem Befehl Gottes an einen Mann entstehen konnte, seinen Sohn zu töten. Für Sol war einerlei, daß der Befehl im letzten Augenblick zurückgenommen worden war. Die Vorstellung, daß es Abrahams Gehorsam war, der ihm ermöglicht hatte, Stammvater sämtlicher Stämme von Israel zu werden, machte Sol ja gerade so wütend.
Nachdem er fünfundzwanzig Jahre seines Lebens der Arbeit an ethischen Systemen gewidmet hatte, war Sol Weintraub zu einer einzigen, unerschütterlichen Schlußfolgerung gelangt: Der Glaube an eine Gottheit oder ein Konzept oder einen universellen Schöpfer, der Gehorsam höher wertete als anständiges Verhalten gegenüber einem unschuldigen Menschen, war böse.
– ›Dann definiere ›unschuldig‹, lautete die leicht amüsierte, etwas
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