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Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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quengelige Stimme, die Sol mit diesen Streitgesprächen assoziierte.
    – Ein Kind ist unschuldig, dachte Sol. Isaak war es. Rachel ist es.
    – ›Unschuldig‹ allein aufgrund der Tatsache, Kind zu sein ?
    – Ja.
    – Und es gibt keine Situation, in der das Blut Unschuldiger für eine größere Sache vergossen werden muß?
    – Nein, dachte Sol. Keine.
    – Aber ich nehme an, ›unschuldig‹ ist nicht nur auf Kinder beschränkt?
    – Sol zögerte, spürte eine Falle und versuchte vorauszuahnen, wohin ihn sein unsichtbarer Gesprächspartner führen wollte. Er konnte es nicht. Nein, dachte er, ›unschuldig‹ sind auch andere, nicht nur Kinder.
    – Wie Rachel? Mit vierundzwanzig? Die Unschuldigen sollten in keinem Alter geopfert werden?
    – Ganz recht.
    – Vielleicht gehört das zu der Lektion, die Abraham lernen mußte, bevor er zum Stammvater der gesegnetesten Nation der Erde werden konnte.
    – Was für eine Lektion? dachte Sol. Was für eine Lektion?
    Aber die Stimme in seinen Gedanken war verstummt, jetzt hörte er nur noch die Laute der Nachtvögel draußen und das leise Atmen der Frau neben sich.
     
    Mit fünf Jahren konnte Rachel noch lesen. Sol konnte sich nicht erinnern, wann sie lesen gelernt hatte – ihm schien, als hätte sie es immer gekonnt. »Vier Standard«, sagte Sarai. »Es war im Frühsommer ... drei Monate nach ihrem Geburtstag. Wir haben auf der Wiese über dem College ein Picknick gemacht. Rachel hat ihr Winnie-Puh-Buch angesehen und plötzlich gesagt: ›Ich höre eine Stimme in meinem Kopf.‹«
    Da fiel es Sol auch wieder ein.
    Er erinnerte sich auch an die Freude, die er und Sarai empfunden hatten, weil Rachel sich für ihr Alter so schnell immer neue Fähigkeiten angeeignet hatte. Er erinnerte sich daran, weil sie jetzt die Umkehr dieses Prozesses erlebten.
    »Dad«, sagte Rachel, die auf dem Boden in seinem Arbeitszimmer lag und sorgfältig ein Malbuch ausmalte, »wie lange ist es seit Moms Geburtstag her?«
    »Das war Montag«, sagte Sol, der mit seiner Lektüre beschäftigt war. Sarai hatte noch nicht Geburtstag gehabt, aber Rachel erinnerte sich daran.
    »Ich weiß. Aber wie lange ist es seitdem her?«
    »Heute ist Donnerstag«, sagte Sol. Er las eine lange Abhandlung über Gehorsam im Talmud.
    »Ich weiß. Aber wie viele Tage?«
    Sol legte das Buch weg. »Kannst du die Wochentage aufsagen?« Barnards Welt hatte den alten Kalender benützt.
    »Klar«, sagte Rachel. »Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag ...«
    »Samstag hast du schon gesagt.«
    »Ja. Aber vor wie vielen Tagen?«
    »Kannst du von Montag bis Donnerstag zählen?«
    Rachel runzelte die Stirn und bewegte die Lippen. Sie versuchte es noch einmal, und diesmal zählte sie mit den Fingern. »Vier Tage?«
    »Gut«, sagte Sol. »Kannst du mir sagen, was 10 minus 4 ist, Kleines?«
    »Was heißt minus?«
    Sol zwang sich, wieder in sein Buch zu schauen »Nichts«, sagte er. »Das lernst du in der Schule.«
    »Wenn wir morgen nach Hause gehen?«
    »Ja.«
     
    Eines Morgens, als Rachel mit Judy zu den anderen Kindern zum Spielen ging – sie war zu jung, noch zur Schule zu gehen –, sagte Sarai: »Sol, wir müssen sie nach Hyperion bringen.«
    Sol sah sie an. »Was?«
    »Du hast schon richtig gehört. Wir können nicht warten, bis sie so jung ist, daß sie nicht mehr laufen kann ... oder sprechen. Und wir werden auch nicht jünger.« Sarai lachte humorlos. »Hört sich komisch an, was? Aber es ist so. Die Poulsen-Behandlungen werden in einem oder zwei Jahren aufhören zu wirken.«
    »Sarai, weißt du nicht mehr? Die Ärzte haben gesagt, daß Rachel die kryonische Fuge nicht überleben kann. Niemand erlebt FTL-Flüge ohne Fugenstadium. Der Hawking-Effekt kann einen wahnsinnig machen ... oder schlimmeres.«
    »Unwichtig«, sagte Sarai. »Rachel muß nach Hyperion zurückkehren.«
    »Um Himmels willen, wovon redest du?« fragte Sol böse.
    Sarai nahm seine Hand. »Glaubst du, du bist der einzige, der den Traum gehabt hat?«
    »Traum?« brachte Sol heraus.
    Sie seufzte und setzte sich an den weißen Küchentisch. Morgenlicht fiel wie ein gelber Scheinwerfer auf die Topfpflanzen. »Der dunkle Saal«, sagte sie. »Die roten Lichter in der Höhe. Die Stimme. Die uns sagt ... uns sagt ... sie zu nehmen ... nach Hyperion zu gehen. Ein ... ein Opfer darzubringen.«
    Sol leckte sich die Lippen, aber sie waren trocken. Sein Herz klopfte. »Wessen Name ... wessen Name wird gerufen?«
    Sarai sah ihn

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