Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
und im weichen Gras rollen, wie Siri und ich es so oft hier an dieser Stelle getan haben.
Ganz genau an dieser Stelle. Ich bleibe stehen und sehe um mich. Das Weidengras biegt sich und wogt wie das Fell eines großen Tiers, wenn der salzige Wind aus dem Süden weht. Ich beschirme die Augen und studiere den Horizont, aber dort regt sich nichts. Draußen hinter dem Lavariff brandet das Meer und tost in nervösen Zuckungen.
»Siri«, flüstere ich. Ich spreche ihren Namen aus, ohne es zu wollen. Hundert Meter weiter unten am Hang hält die Menge inne, beobachtet mich und hält den Atem an. Die Prozession der Trauernden und Berühmtheiten erstreckt sich mehr als einen Kilometer bis zu den weißen Gebäuden der Stadt. Ich kann den Kopf meines jüngeren Sohns mit dem schütteren grauen Haar in der Vorhut erkennen. Er trägt die blaue und goldene Uniform der Hegemonie. Ich weiß, ich sollte auf ihn warten, an seiner Seite gehen, aber er und die anderen ältlichen Ratsmitglieder können nicht mit meinen jugendlichen, schiffstrainierten Muskeln und dem ausgreifenden Gang Schritt halten. Nichtsdestoweniger verlangt die Etikette, daß ich mit ihm und meiner Enkelin Lira und meinem neunjährigen Enkel gehen sollte.
Zum Teufel damit! Und zum Teufel mit ihnen!
Ich drehe mich um und laufe den steilen Hügel hinauf. Schweiß durchnäßt mein weites Baumwollhemd, noch ehe ich den gewölbten Kamm des Hügels erreiche und das Grab erkennen kann.
Siris Grab.
Ich bleibe stehen. Der Wind macht mich frösteln, obwohl die Sonne durchaus warm ist und auf den makellos weißen Wänden des stillen Mausoleums funkelt. In der Nähe des versiegelten Eingangs zur Gruft ist das Gras hoch. Reihen verblichener Festwimpel auf Ebenholzstäben säumen den schmalen Kiesweg.
Ich kann mich eines Lächelns nicht erwehren. Ich kenne den Ausblick von hier: die große Kurve des äußeren Hafenbeckens mit seinem natürlichen Wall zum Meer, die flachen weißen Gebäude von Firstsite, die bunten Hüllen und Masten der Katamarane, die schaukelnd vor Anker liegen. Am Kiesstrand hinter der Stadthalle geht eine junge Frau im weißen Rock zum Wasser.
Einen Augenblick denke ich, es ist Siri, und mein Herz klopft. Ich bereite mich halb darauf vor, als Antwort auf ihr Winken die Arme hochzureißen, aber sie winkt nicht. Ich verfolge stumm, wie die ferne Gestalt sich abwendet und zwischen den Schatten der alten Schiffshallen verschwindet.
Über mir zieht weit von der Klippe entfernt ein großer Thomasfalke seine Kreise über der Lagune, läßt sich von den Aufwinden tragen und sucht die Blaukelpbeete mit seiner Infrarotsicht nach Heukobben oder Torpids ab. Die Natur ist dumm, denke ich und setze mich ins weiche Gras. Die Natur bereitet die Bühne völlig falsch für so einen Tag, und dann ist sie auch noch unverständig genug, einen Vogel nach Beute suchen zu lassen, die längst aus den verschmutzten Gewässern rings um die Stadt geflohen ist.
Ich erinnere mich an einen anderen Thomasfalken in der ersten Nacht, als Siri und ich auf diesen Hügel gekommen waren. Ich erinnere mich an das Mondlicht auf seinen Schwingen und seinen seltsam quälenden Ruf, der von den Klippen hallte und die Dunkelheit über den Gaslaternen des Dorfes unten zu durchschneiden schien.
Siri war sechzehn ... nein, noch keine sechzehn ... und das Mondlicht, das die Schwingen des Falken über uns berührte, bemalte ihre nackte Haut auch mit milchigem Leuchten und warf Schatten unter die sanften Halbrunde ihrer Brüste. Wir sahen schuldbewußt auf, als der Schrei des Vogels durch die Nacht hallte, und Siri sagte: »›Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche, die eben jetzt dein banges Ohr durchdrangt«
»Hm?« sagte ich. Siri war fast sechzehn. Ich war neunzehn. Aber Siri kannte den gemächlichen Schritt von Büchern und die Kadenzen des Theaters unter den Sternen. Ich kannte nur die Sterne.
»Entspanne dich, junger Schiffsmann«, flüsterte sie und zog mich neben sich. »Nur ein alter Tomsfalke auf der Jagd. Dummer Vogel. Komm zurück, Schiffsmann. Komm zurück, Merin!«
Die Los Angeles hatte sich diesen Augenblick ausgesucht, über den Horizont emporzusteigen und wie eine vom Wind getragene Fackel vor den seltsamen Konstellationen von Maui-Covenant, Siris Welt, nach Westen zu ziehen. Ich lag neben ihr und beschrieb ihr die Funktionsweise des großen Spin-Schiffs mit Hawking-Antrieb, auf dem sich schräges Sonnenlicht von unten als Kontrast zur Nacht über uns fing, und derweil glitt
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