Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
zusammengerufen, und die haben ihr eine der uralten Kälteschlafkammern gebaut, wie man sie vor zwei Jahrhunderten in den Saatschiffen benutzt hat. Siri schläft nur. Mehr noch, der jahrelange Schlaf hat irgendwie ihre Jugend wiederhergestellt. Wenn ich sie wecke, wird sie die Siri sein, die ich aus unseren Anfangstagen kenne. Wir werden gemeinsam in den Sonnenschein gehen, und wenn das Farcasterportal geöffnet wird, werden wir als erste hindurchgehen.
»Vater?«
»Ja.« Ich gehe vor und lege die Hand auf die Tür der Gruft. Ein Flüstern elektrischer Motoren ist zu hören, die weiße Steinplatte gleitet beiseite. Ich neige den Kopf und betrete Siris Gruft.
»Verdammt, Merin, du sollst die Leine sichern, ehe sie dich über Bord peitscht. Beeil dich!« Ich beeilte mich. Das nasse Seil war schwer zu krümmen und noch schwerer zu binden. Siri schüttelte mißbilligend den Kopf, beugte sich herüber und band mit einer Hand einen Seemannsknoten.
Es war unser Sechstes Wiedersehen. Ich war drei Monate zu spät zu ihrem Geburtstag gekommen, aber mehr als fünftausend andere hatten es zu den Feierlichkeiten geschafft. Die Präsidentin des All-Wesens hatte ihr in einer vierzigminütigen Ansprache alles Gute gewünscht. Ein Dichter las seine jüngsten Sonette aus dem Liebes-Zyklus. Der Botschafter der Hegemonie hatte ihr eine Urkunde und ein neues Schiff überreicht, ein kleines Unterseeboot, das von den ersten Fusionszellen angetrieben wurde, die auf Maui-Covenant erlaubt wurden.
Siri verfügte über achtzehn weitere Schiffe. Zwölf gehörten zu ihrer Flotte schneller Katamarane, die den Handel zwischen dem wandernden Archipel und den Heimatinseln unterhielten. Zwei waren wunderschöne Rennjachten, die nur zweimal im Jahr benützt wurden, um die Gründer-Regatta und das Covenant Criterium zu gewinnen. Bei den vier anderen Schiffen handelte es sich um uralte Fischerboote, hausbacken und unbeholfen, gut erhalten, aber wenig mehr als Schaluppen.
Siri besaß neunzehn Schiffe, aber wir waren auf einem Fischerboot – der Cinnie Paul. In den vergangenen acht Tagen hatten wir in den äquatorialen Untiefen gefischt; eine zweiköpfige Besatzung – wir hatten Netze ausgeworfen und eingeholt, waren bis zu den Knien durch stinkenden Fisch und knirschende Trilobiten gewatet, stolperten bei jeder Welle, warfen Netze aus und holten sie ein, hielten Wache und schliefen während unserer kurzen Ruheperioden wie erschöpfte Kinder. Ich war noch nicht ganz dreiundzwanzig. Ich hatte gedacht, ich hätte mich an Bord der L. A. an harte Arbeit gewöhnt, und ich hatte mir zu eigen gemacht, jede zweite Schicht in der 1,3-ge-Kammer zu trainieren, aber jetzt taten meine Arme und mein Rücken von der Anstrengung weh, und meine Hände hatten Blasen zwischen den Schwielen. Siri war gerade siebzig geworden.
»Merin, geh nach vorn und reff das Vorsegel! Dann das Klüversegel, und dann gehst du nach unten und machst belegte Brote. Viel Senf!«
Ich nickte und machte mich an die Arbeit. Seit anderthalb Tagen spielten wir Verstecken mit einem Sturm: wir segelten vor ihm, wenn wir konnten, und drehten bei und akzeptierten seine Strafe, wenn wir mußten. Anfangs war es aufregend gewesen, eine willkommene Abwechslung von dem ewigen Werfen und Ziehen und Flicken. Aber nach den ersten Stunden ließ der Adrenalinschub nach und wich konstanter Übelkeit, Erschöpfung und ständiger Müdigkeit. Das Meer gab nicht nach. Die Wellen stiegen sechs Meter hoch und höher. Die Ginnie Paul schlingerte wie eine breite Matrone, was sie auch war. Alles war naß. Meine Haut war unter drei Schichten Regenkleidung durchnäßt. Für Siri waren es Ferien, auf die sie sich schon lange gefreut hatte.
»Das ist noch gar nichts«, sagte sie während der schwärzesten Stunde der Nacht, als die Wogen über dem Deck zusammenschlugen und gegen das narbige Plastik der Brücke schäumten. »Du solltest einmal während der Samumzeit hier sein.«
Die Wolken hingen immer noch tief und verschmolzen in der Ferne mit den grauen Wellen, aber das Meer hatte sich beruhigt und ging nur noch anderthalb Meter hoch. Ich strich Senf auf die Roastbeefbrote und schenkte dampfenden Kaffee in dicke, weiße Tassen. Es wäre leichter gewesen, den Kaffee in Nullschwerkraft zu transportieren, als ihn ohne etwas zu verschütten den schwankenden Schaft der Treppe hinaufzubringen. Siri akzeptierte ihre übergeschwappte Tasse kommentarlos. Wir saßen eine Weile schweigend da und genossen die Brote und die
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