Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
Gesichtsbehaarung und die weiten Gewänder, die gerade bis zum Boden fallen, tragen samt und sonders dazu bei, daß es sehr schwer ist, Männer von Frauen zu unterscheiden. Die Gruppe, der ich mich jetzt gegenübersah – mittlerweile waren es an die fünfzig – , schien ausnahmslos im selben Alter zu sein; irgendwo zwischen vierzig und fünfzig Standardjahren. Ihre Gesichter waren glatt, die Haut wies einen gelblichen Farbton auf, der meiner Meinung nach darauf zurückzuführen ist, daß ganze Generationen Spurenelemente in den Chalma und anderen hiesigen Pflanzen zu sich genommen haben.
Man könnte versucht sein, die runden Gesichter der Bikura als engelsgleich zu beschreiben, bis der Eindruck von Verklärtheit bei eingehender Betrachtung verschwindet und einer anderen Interpretation weichen muß – gelassenen Schwachsinns. Als Priester habe ich genug Zeit auf entlegenen Hinterwelten verbracht, daß ich die Auswirkungen eines uralten genetischen Defekts erkennen konnte, der Down's Syndrom, Mongolismus oder Generationenschiff-Erbe genannt wird. Dies war der allgemeine Eindruck, den die rund sechzig kleinwüchsigen Menschen machten, die sich um mich geschart hatten: Ich wurde von einer stummen, lächelnden Bande kahlköpfiger, zurückgebliebener Kinder begrüßt.
Ich rief mir ins Gedächtnis zurück, daß dies mit ziemlicher Sicherheit dieselbe Gruppe ›lächelnder Kinder‹ war, die Tuks Kehle durchgeschnitten hatten, während er schlief, und ihn verbluten ließen wie ein abgestochenes Schwein.
Der mir am nächsten stehende Bikura trat nach vorne, blieb fünf Schritte von mir entfernt stehen und sagte etwas mit leiser, monotoner Stimme.
»Einen Augenblick«, sagte ich und kramte mein Komlog heraus. Ich gab die Übersetzungsfunktion ein.
»Bitu err menna ota kruzfom ghöt?« fragte der kleine Mann vor mir.
Ich führte den Ohrstöpsel gerade noch rechtzeitig ein, daß ich die Übersetzung des Komlog mitbekam. Keine zeitliche Verschiebung. Die scheinbar fremde Sprache war nichts weiter als eine schlichte Verballhornung des archaischen Saatschiffenglischen und unterschied sich nicht so sehr vom Eingeborenenkauderwelsch der Plantagen. »Du bist der Mann, der zur Kreuzgestalt/Kruziform gehört«, interpretierte das Komlog und gab mir zwei Möglichkeiten für das zweite Substantiv.
»Ja«, sagte ich und wußte jetzt, daß diese mich in der Nacht berührt hatten, als ich Tuks Ermordung verschlief. Was bedeutete, sie waren diejenigen, die Tuk ermordet hatten.
Ich wartete. Der Jagdstrahler war in meinem Rucksack. Der Rucksack lehnte an einer kleinen Chalma keine zehn Schritte entfernt. Ein halbes Dutzend Bikura standen zwischen mir und dem Rucksack. Unwichtig. Ich wußte in diesem Augenblick, daß ich keine Waffe gegen ein anderes Menschenwesen erheben würde, auch nicht gegen Wesen, die meinen Führer ermordet hatten und mich möglicherweise auch jeden Augenblick ermorden wollten. Ich machte die Augen zu und sprach ein stummes Bußgebet. Als ich die Augen aufschlug, waren noch mehr Bikura eingetroffen. Die Bewegungen hörten auf, als wäre eine beschlußfähige Anzahl zusammengekommen und eine Entscheidung gefällt worden.
»Ja«, sagte ich wieder in die Stille. »Ich trage das Kreuz.« Ich hörte, wie der Komloglautsprecher das letzte Wort als ›kruzfom‹ übersetzte.
Die Bikura nickten unisono, danach sanken sie alle – als hätten sie lange als Meßknaben geübt – mit leise raschelnden Gewändern zu einem perfekten Kniefall nieder.
Ich machte den Mund auf, um zu sprechen, und stellte fest, daß ich nichts zu sagen hatte. Ich machte den Mund wieder zu.
Die Bikura standen auf. Ein Windhauch wehte durch die trockenen Chalmawedel und Blätter und erzeugte ein trockenes Der-Sommer-ist-vorbei-Geräusch über uns. Der Bikura, der mir linker Hand am nächsten stand, kam näher, ergriff meinen Unterarm mit kalten, kräftigen Fingern und sprach einen leisen Satz, den mein Komlog mit »Komm! Es ist Zeit, in die Häuser zu gehen und zu schlafen« übersetzte.
Es war Spätnachmittag. Ich fragte mich, ob das Komlog das Wort › Schlaf‹ richtig übersetzt hatte, oder ob es sich um ein Idiom oder eine Metapher für ›sterben‹ handeln könnte, nickte und folgte ihnen zu dem Dorf am Rand der Kluft.
Jetzt sitze ich in der Hütte und warte. Es raschelt. Jemand anders ist auch wach. Ich sitze da und warte.
Tag 97:
Die Bikura nennen sich selbst die ›Fünf Dutzend und Zehn‹.
Ich habe mich die vergangenen
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