Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
Jesus an?« fragte ich.
Ihre verständnislosen Gesichter machten eine verbale Verneinung überflüssig.
»Christus?« versuchte ich es wieder. »Jesus Christus? Christen? Die katholische Kirche?«
Kein Interesse.
»Katholiken? Jesus? Maria? Petrus? Paulus? St. Teilhard?«
Das Komlog gab Geräusche von sich, aber die Worte schienen keine Bedeutung für sie zu haben.
»Ihr folgt dem Kreuz?« sagte ich, um einen letzten Kontakt bemüht.
Alle drei sahen mich an. »Wir gehören zur Kruziform«, sagte Alpha.
Ich nickte, obwohl ich nichts begriff.
An diesem Abend schlief ich kurz vor Sonnenuntergang kurz ein, als ich wieder aufwachte, erklang die Orgelpfeifenmusik der Winde der Kluft zur Abenddämmerung. Hier auf den Simsen des Dorfes war sie viel lauter. Selbst die Hütten schienen in den Chor einzustimmen, wenn die Winde durch Lücken in den Steinen, wiegende Farnwedel und primitive Rauchabzugslöcher heulten und pfiffen.
Etwas stimmte nicht. Ich brauchte eine Minute, bis mir in meiner Benommenheit auffiel, daß das Dorf verlassen war. Jede Hütte stand leer. Ich setzte mich auf einen kalten Felsblock und fragte mich, ob meine Anwesenheit einen Massenexodus ausgelöst hatte. Die Windmusik hatte aufgehört, hinter Rissen in den tiefhängenden Wolken begannen die Meteoriten ihr nächtliches Feuerwerk, als ich ein Geräusch hinter mir hörte, mich umdrehte und alle siebzig der Fünf Dutzend und Zehn hinter mir sah.
Sie gingen wortlos an mir vorbei in ihre Hütten. Kein Licht wurde angemacht. Ich stellte mir vor, wie sie in ihren Hütten saßen und ins Leere starrten.
Ich blieb noch eine Weile draußen, bevor ich in meine Hütte ging. Nach einer Weile schritt ich zum Rand der grasbewachsenen Fläche und stand dort, wo der Abgrund begann. Ein Geflecht von Ranken und Wurzeln klammerten sich ans Antlitz der Klippe, sie schienen aber nach wenigen Metern im Raum aufzuhören und da über der Leere zu hängen. Keine Ranke konnte so lang sein, daß man an ihr hätte die zweitausend Meter bis zum Fluß hinunterklettern können.
Aber die Bikura waren aus dieser Richtung gekommen.
Nichts ergab einen Sinn. Ich schüttelte den Kopf und begab mich in meine Hütte.
Da sitze ich, schreibe im Licht des Komlog-Diskey und versuche, mir Vorsichtsmaßnahmen auszudenken, damit ich den Sonnenaufgang erlebe.
Mir fallen keine ein.
Tag 103:
Je mehr ich lerne, desto weniger verstehe ich.
Ich habe den größten Teil meiner Ausrüstung in die Hütte gebracht, die sie hier im Dorf für mich freihalten.
Ich habe Fotos gemacht, Video- und Audiochips aufgenommen und ein vollständiges Holoscanning des Dorfes und seiner Bewohner angefertigt. Es scheint ihnen einerlei zu sein. Ich projiziere ihre Ebenbilder, und sie schreiten einfach durch sie hindurch und zeigen kein Interesse. Ich spiele ihnen ihre eigenen Worte wieder vor, und sie lächeln und gehen in ihre Hütten, sitzen stundenlang da, tun nichts und sagen nichts. Ich biete ihnen Waren zum Tausch an, die sie kommentarlos nehmen, überprüfen, ob sie eßbar sind, und dann liegenlassen. Auf dem Gras wimmelt es von Plastikperlen, Spiegeln, bunten Stofftüchern und billigen Kugelschreibern.
Ich habe ein voll ausgerüstetes medizinisches Labor aufgebaut, aber vergebens; die Fünf Dutzend und Zehn lassen nicht zu, daß ich sie untersuche, sie lassen sich keine Blutproben nehmen, obwohl ich ihnen mehrmals gezeigt habe, daß es völlig schmerzlos ist, sie lassen sich nicht mit dem Diagnoseapparat scannen – kurz gesagt, sie sind in keiner Weise zu einer Zusammenarbeit bereit. Sie streiten nicht. Sie erklären nicht. Sie drehen sich einfach um und geben sich weiter ihrem Nichtstun hin.
Nach einer Woche kann ich immer noch nicht Männer von Frauen unterscheiden. Ihre Gesichter erinnern mich an diese optischen Täuschungen, die sich verändern, während man sie ansieht; manchmal sieht Bettys Gesicht unzweifelhaft weiblich aus, zehn Sekunden später ist die Spur der Geschlechtszugehörigkeit dahin und ich betrachte sie (ihn?) wieder als Beta. Ihre Stimmen unterliegen derselben Veränderung. Sanft, wohlmoduliert, geschlechtslos ... sie erinnern mich an die armselig programmierten Heimcomps, die man auf abgelegenen Hinterwelten findet.
Ich hoffe, daß ich einmal einen nackten Bikura sehen kann. Es fällt einem achtundsechzig Standardjahre alten Jesuiten nicht leicht, das zuzugeben. Und es wäre sicher auch für einen Voyeurs Veteranen keine leichte Aufgabe. Das Nacktheitstabu scheint
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