Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
breite Kluft wehte, war kaum ein Laut zu hören. Ich stellte fest, daß ich das leise Rauschen des Flusses tief unten hören konnte.
Der Pfad verlief nach links um einen Abschnitt der Klippe herum und hörte auf. Ich trat auf eine breite Plattform sanft abfallenden Felsens und sah mich um. Ich glaube, ich habe unwillkürlich das Zeichen des Kreuzes gemacht.
Weil dieser Sims einen hundert Meter langen Klippenabsatz weit direkt von Norden nach Süden verlief, konnte ich durch die dreißig Meter lange Wunde der Kluft nach Westen zum freien Himmel sehen, wo das Plateau aufhört. Mir wurde sofort klar, daß die untergehende Sonne diesen Abschnitt der Klippenwand unter dem Überhang jeden Abend beleuchten würde. Es hätte mich nicht überrascht, wenn Hyperions Sonne – an Frühlings- und Herbstsonnenwende – von diesem Beobachtungspunkt aus den Eindruck erwecken würde, als würde sie direkt in der Kluft versinken, so daß ihre roten Ränder gerade noch die rosa getönten Felsen berührten.
Ich drehte mich nach links und studierte das Antlitz der Klippe. Der ausgetretene Pfad führte über den breiten Sims zu Türen, die in das vertikale Gestein gemeißelt waren. Nein, es waren nicht nur Türen, es waren Portale, kunstvoll geschnitzte Portale mit fein gearbeiteten Steinzargen und Stürzen. Auf beiden Seiten der zwei Portale verliefen breite Fenster mit Buntglas, die sich mindestens zwanzig Meter Richtung Überhang hinauf erhoben. Ich trat näher und begutachtete die Fassade. Wer immer dies erbaut hatte, hatte es bewerkstelligt, indem er den Abschnitt unter dem Überhang verbreitert und eine gerade, glatte Wand in den Granit des Plateaus gehauen hatte, um sich dann direkt ins Gestein der Klippe hineinzuarbeiten. Ich strich mit den Händen über die tiefen Furchen schmückender Reliefs um die Türen herum. Glatt. Alles war von der Zeit geglättet und abgenutzt und weicher gemacht worden, selbst hier, wo die schützende Lippe des Überhangs es weitgehend vor den Elementen verbarg. Wie viele Jahrtausende war dieser ... Tempel ... schon in die Südwand der Kluft gehauen?
Das Buntglas bestand weder aus Glas noch aus Plastik, sondern aus einer dicken, transparenten Substanz, die sich so hart wie der umliegende Fels anfühlte. Und das Fenster war auch nicht aus einzelnen Elementen zusammengesetzt; die Farben wirbelten, verblaßten, schmolzen und gingen ineinander über wie Öl auf Wasser.
Ich nahm die Taschenlampe aus dem Rucksack, berührte eine der Türen und erstarrte, als das hohe Portal mit Leichtigkeit nach innen schwang.
Ich betrat das Vestibül – ein anderes Wort gibt es nicht dafür –, durchquerte den stillen Abschnitt von zehn Metern und blieb vor einer weiteren Wand stehen, welche ebenfalls aus dem Buntglasmaterial bestand, das jetzt hinter mir leuchtete und das Vestibül mit dem Licht hundert subtiler Nuancen erfüllte. Ich merkte gleich, daß bei Sonnenuntergang direkte Strahlen der Sonne diesen Raum mit unglaublich leuchtenden Farben erhellen, auf die Buntglaswand vor mir fallen und beleuchten würden, was immer dahinter liegen mochte.
Ich fand eine einzige Tür, mit dünnem, dunklem Metall eingefaßt, das in den Buntglasstein eingelassen war, und trat ein.
Auf Pacem haben wir – so gut wir es mit uralten Fotos und Holos konnten – die Basilika des Petersdoms originalgetreu nachgebaut, wie sie im alten Vatikan stand. Die Kirche ist fast zweihundert Meter lang und hundertdreißig breit und kann fünfzigtausend Gläubige aufnehmen, wenn Seine Heiligkeit die Messe liest. Wir hatten aber nie mehr als fünftausend Besucher dort, nicht einmal wenn der Rat der Bischöfe aller Welten alle dreiundvierzig Jahre zu einer Vollversammlung zusammenkam. In der zentralen Apsis, wo unsere Kopie von Berninis Thron in St. Peter steht, erhebt sich die große Kuppel mehr als hundertdreißig Meter über den Boden des Altars. Ein wirklich eindrucksvoller Raum.
Dieser war größer.
Im trüben Licht nahm ich meine Taschenlampe zu Hilfe, um sicherzugehen, daß ich mich wirklich in einem einzigen gigantischen Raum befand – einer riesigen Halle, die aus solidem Felsgestein ausgehöhlt worden war. Ich schätzte, daß die glatten Wände zu einer Decke emporstrebten, die nur wenige Meter unter der Oberfläche der Klippe sein konnte, wo die Bikura ihre Hütten errichtet hatten. Hier waren keine Verzierungen zu sehen, kein Mobiliar, keine Spur irgendeines Zugeständnisses an Form und Funktion, abgesehen von einem Objekt, das
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