Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
herauszufinden: Ich konnte den Cybrid verlassen und auf den Highways der Megasphäre zum Core reisen, wie Brawne und mein körperloser Konterpart es das letztemal gemacht hatten, als ich ihre Wahrnehmung teilte.
Nein.
Bei der Vorstellung wurde mir schwindlig, fast übel. Ich fand eine Bank, setzte mich für einen Augenblick, ließ den Kopf zwischen die Knie sinken und atmete langsam und tief durch. Die Menge zog vorüber. Irgendwo wandte sich jemand über Megaphon an sie.
Ich hatte Hunger. Es war mindestens vierundzwanzig Stunden her, seit ich etwas gegessen hatte, und Cybrid hin oder her, mein Körper war schwach und ausgehungert. Ich drängte mich in eine Nebenstraße, wo Händler über das allgemeine Tohuwabohu hinweg schrien und ihre Waren von einrädrigen Gyrowagen verkauften.
Ich fand einen Wagen, wo die Schlange kurz war, kaufte Honiggebäck, eine Tasse aromatischen Kaffee von Bressia und ein mit Salat gefülltes Fladenbrot, bezahlte die Frau mit meiner Universalkarte und kletterte die Treppe zu einem leerstehenden Gebäude hinauf, wo ich mich auf einen Balkon setzte und aß. Es schmeckte köstlich. Ich trank meinen Kaffee und überlegte, ob ich mir noch eine Portion Gebäck holen sollte, als mir auffiel, daß die Menge unten ihr zielloses Hin und Her aufgegeben hatte und sich um eine kleine Gruppe Männer drängte, die am Rand eines großen Springbrunnens in der Mitte standen. Ihre verstärkten Worte hallten über die Köpfe der Menge zu mir herüber:
»... der Racheengel ist über uns gekommen, Prophezeiungen wurden erfüllt, die Jahrtausendwende rückt näher ... der Plan des Avatar verlangt nach einem Opfer ... wie es die Kirche der Letzten Buße vorhergesagt hat, die weiß und immer gewußt hat, daß eine solche Buße erforderlich ist ... zu spät für derlei halbherzige Maßnahmen ... zu spät für Vernichtungsmaßnahmen ... das Ende der Menschheit steht bevor, das Leiden hat begonnen, das Zeitalter des Herrn wird beginnen.«
Mir wurde klar, bei den Männern in Rot handelte es sich um Priester des Shrike-Kults, und die Menge reagierte – zuerst mit vereinzelten Rufen der Zustimmung, gelegentlichen Ausrufen wie »Ja, ja!« und »Amen!« und dann mit vereintem Gesang, bei dem Fäuste über den Köpfen geschwungen und schrille Schreie der Ekstase laut wurden. Es war unfaßbar, um es milde auszudrücken. Dem Netz waren in diesem Jahrhundert viele der religiösen Obertöne des Roms der Alten Erde kurz vor Beginn des christlichen Zeitalters eigen: eine Politik der Toleranz, zahllose Kulte – die meisten, wie die Zen-Gnostik, komplex und verinnerlicht, nicht von Bekehrungseifer erfüllt –, während die allgemeine Stimmung einem verhaltenen Zynismus und Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Strömungen entsprach.
Aber heute, hier auf diesem Platz, nicht.
Ich mußte daran denken, daß es in den vergangenen Jahrhunderten keinen Mob gegeben hatte. Um einen Mob zu bilden, sind öffentliche Versammlungen erforderlich, und öffentliche Versammlungen bestanden in unserer Zeit aus Individuen, die über das All-Wesen oder andere Kanäle der Datensphäre kommunizierten; es ist schwer, das emotionale Potentials eines Mobs aufzubringen, wenn die Leute Kilometer oder gar Lichtjahre voneinander entfernt und lediglich durch Komleitungen und Fatlinekanäle vereint sind.
Plötzlich wurde ich aus meinem Nachdenken gerissen, weil das Toben der Menge verstummte und tausend Gesichter sich in meine Richtung drehten.
»... und dort ist einer von ihnen!« schrie der heilige Mann des Shrike-Kults, dessen rotes Gewand leuchtete, als er in meine Richtung deutete. »Einer von denen aus dem engsten Kreis der Hegemonie ... einer der ränkeschmiedenden Sünder, die am heutigen Tag die Buße über uns gebracht haben ... dieser Mann und seinesgleichen wollen, daß das Shrike-Avatar euch für seine Sünden büßen läßt, während er und die anderen sich auf den geheimen Welten, die die Führer der Hegemonie für diesen Tag eingerichtet haben, in Sicherheit befinden!«
Ich stellte die Kaffeetasse weg, schluckte den letzten Bissen Fladenbrot und sah mich fassungslos um. Der Mann stammelte Unsinn. Aber woher wußte er, daß ich von TC 2 gekommen war? Oder daß ich Zutritt zu Gladstone hatte? Ich sah wieder hin, schirmte die Augen vor der grellen Helligkeit ab und versuchte, nicht auf die Gesichter und Fäuste zu achten, die in meine Richtung geschüttelt wurden, sondern konzentrierte mich auf das Gesicht über dem roten Gewand
Weitere Kostenlose Bücher