Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
Klick im Tal drinnen, im Nordosten. Die Logik schreibt vor, daß es zwei Schützen sein müssen. Kassad ist sicher, daß es nur einer ist. Er justiert die Displayskala. Der zweite Schuß wurde hoch oben auf dem Monolithen abgegeben, mindestens dreißig Meter hoch an der glatten Fläche.
Kassad schwingt sich hinaus, schaltet die Vergrößerung höher und späht durch Nacht und die letzten Ausläufer des Sand- und Schneesturms zu dem riesigen Gebilde. Nichts. Keine Fenster, keine Scharten, überhaupt keine irgendwie geartete Öffnung.
Nur die Milliarden Kolloidpartikelchen, die nach dem Sturm noch in der Luft schweben, machen den Laser einen Sekundenbruchteil sichtbar. Kassad sieht den grünen Strahl, nachdem dieser ihn an der Brust getroffen hat. Er rollt sich in den Eingang des Jadegrabs zurück und fragt sich, ob die grünen Mauern eine Lichtlanze abhalten können, während Supraleiter in seinem Kampfanzug Hitze nach allen Richtungen abführen und sein taktisches Display ihm verrät, was er schon weiß: der Schuß ist von hoch oben am Kristallmonolithen gekommen.
Kassad verspürt einen stechenden Schmerz in der Brust, sieht an sich hinunter und wird gewahr, daß aus einem fünf Zentimeter durchmessenden Loch des Unverwundpanzers geschmolzene Hartfasern auf den Boden tropfen. Nur die letzte Schicht hat ihn gerettet.
Sein ganzer Körper in dem Anzug trieft vor Schweiß, und Kassad stellt fest, daß die Wände des Grabs buchstäblich glühen, soviel Hitze hat der Anzug abgeleitet. Biomonitoren verlangen Aufmerksamkeit, bringen aber keine weltbewegenden Neuigkeiten; die Anzugsensoren melden einige Schaltkreisschäden, aber nichts Unersetzliches, und seine Waffe ist immer noch geladen, voll und einsatzbereit.
Kassad denkt darüber nach. Alle Gräber sind unermeßliche archäologische Schätze, die seit Jahrhunderten für künftige Generationen erhalten werden, selbst wenn sie sich in der Zeit rückwärts bewegen. Es wäre ein Verbrechen interplanetaren Ausmaßes, wenn Oberst Fedmahn Kassad sein eigenes Leben über den Erhalt so kostbarer Artefakte stellen würde.
»Ach, scheiß drauf«, flüstert Kassad und rollt sich in Feuerstellung.
Er pumpt Laserfeuer über die Oberfläche des Monolithen, bis Kristall schmilzt und zerfließt. Er donnert in Zehnmeterintervallen hochexplosive Geschosse in das Ding, wobei er mit den oberen Etagen anfängt. Tausende Scherben spiegelnden Metalls fliegen in die Nacht, taumeln in Zeitlupe auf den Boden des Tals und hinterlassen Lücken, so häßlich wie fehlende Zähne, im Antlitz des Bauwerks. Kassad schaltet wieder um auf breitgefächertes kohärentes Licht und bestreicht das Innere durch die Öffnungen; er grinst, als auf mehreren Etagen etwas in Flammen aufgeht. Kassad feuert Hees – Hochenergie-Elektronenstrahlen –, die den Monolithen durchschlagen und makellos zylindrische, vierzehn Zentimeter durchmessende Tunnel einen halben Kilometer ins Felsgestein der Talwände bohren. Er feuert Kanistergranaten, die zu Zehntausenden von Nadelsplittern explodieren, nachdem sie die Kristallfassade des Monolithen durchdrungen haben. Er stößt wahllos Laserpulsbündel aus, die alles und jeden blenden, das von dem Gebäude in seine Richtung blickt. Er feuert auf Körperwärme programmierte Pfeile in jede Lücke, die ihm die zertrümmerte Struktur darbietet.
Kassad rollt sich in den Eingang des Jadegrabs zurück, und klappt das Visier hoch. Flammen des brennenden Turms spiegeln sich in Tausenden von Kristallsplittern im ganzen Tal. Rauch steigt in eine plötzlich windstille Nacht empor. Karmesinrote Dünen leuchten in den Flammen. Die Luft ist plötzlich vom Klingeln eines Windmobiles erfüllt, während weitere Kristalltrümmer abbrechen und an langen Fäden geschmolzenen Glases herabsinken.
Kassad stößt leere Energiemagazine und Munitionsgurte aus, ersetzt sie mit Nachschub von seinem Gürtel, dreht sich auf den Rücken und atmet die kühlere Luft ein, die zur offenen Tür hereindringt. Er gibt sich nicht der Illusion hin, daß er den Heckenschützen getötet hat.
»Moneta«, flüstert Fedmahn Kassad. Er schließt eine Sekunde lang die Augen, bevor er weitergeht.
Moneta war zum ersten Mal eines Morgens Ende Oktober im Jahre 1415 n. Chr. bei Agincourt zu Kassad gekommen. Die Leichen gefallener Engländer und Franzosen lagen auf dem Schlachtfeld verstreut; im Wald hatte ein einziger bedrohlicher Feind gelauert, und dieser Feind wäre im Kampf mit Kassad der Sieger geblieben, hätte
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