Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
Wohnetagen, Manufaktur- und Dienstleistungsebenen, Abfallbeseitigungs- und Reaktoretagen vorbei. Ihr Komlog und Lautsprecher des Transportschachts warnten sie gleichermaßen, daß sie verbotene und unsichere Zonen weit unter dem Stock betrat. Das Schachtprogramm versuchte, ihren Abstieg aufzuhalten. Sie setzte den Befehl außer Kraft und brachte die Warnungen zum Schweigen. Sie sank weiter an Ebenen ohne Anzeigetafeln oder Lichtern vorbei, durch ein Dickicht von Fiberoptikspaghettis, Heiz- und Kühlrohren und bloßem Felsgestein. Schließlich hielt sie inne.
Gladstone befand sich in einem Korridor, der nur von fernen Leuchtkugeln und öliger Glühwürmchenfarbe erhellt wurde. Wasser tröpfelte aus tausend Rissen in Decke und Wänden und sammelte sich in giftigen Pfützen. Dampf quoll aus Öffnungen in den Wänden, bei denen es sich um andere Korridore handeln mochte, oder um Personalkabuffs, oder einfach um Löcher. Irgendwo in der Ferne erklang das Ultraschallkreischen von Metall, das Metall schnitt; nicht so weit entfernt das elektronische Jaulen von Nihilmusik. Irgendwo schrie ein Mann, und eine Frau lachte, deren Stimme metallisch durch Schächte und Leitungen dröhnte. Das Husten eines Projektilgewehrs erklang.
Dregs Stock. Gladstone kam an eine Kreuzung von Höhlenkorridoren und sah sich um. Ihre Mikrofernsonde sank herab und kam näher, so beharrlich wie ein wütendes Insekt. Es rief nach Schutzverstärkung. Lediglich Gladstones beharrliches Außerkraftsetzen verhinderte, daß der Ruf gehört wurde.
Dregs Stock. Hier hatten sich Brawne Lamia und ihr Cybridliebhaber die letzten Stunden vor ihrem Versuch versteckt den Tempel des Shrike zu erreichen. Dies war eines der Myriaden Schlupflöcher des Netzes, wo der Schwarzmarkt von Flashback bis zu Waffen von FORCE, von illegalen Androiden bis zu gestohlenen Poulsen-Behandlungen, die einem möglicherweise umbrachten, statt noch einmal zwanzig Jahre Jugend zu schenken, alles zu bieten hatte. Gladstone wandte sich nach rechts in den dunkelsten Korridor.
Etwas, so groß wie eine Ratte, aber mit mehr Beinen, wuselte in eine gesprungene Ventilationsröhre. Gladstone roch Abwasser, Fäkalien, den Ozongestank überlasteter Dateiebenendecks, den süßlichen Geruch von Handfeuerwaffentreibladungen, von Schweiß und Erbrochenem und einen Hauch von Pheromonen, die sich zu Gift zersetzt hatten. Sie ging durch die Korridore, dachte an die bevorstehenden Wochen und Monate, an den schrecklichen Preis, den die Welten für ihre Entscheidung, für ihre Besessenheit bezahlen mußten.
Fünf Jugendliche, die Hinterzimmer-ARNisten so sehr verändert hatten, daß sie mehr Tiere als Menschen waren, traten vor Gladstone auf den Korridor. Sie wartete.
Die Mikrofernsonde senkte sich vor sie und deaktivierte ihr Tarnpolymer. Die Kreaturen vor ihr lachten, weil sie nur eine wespengroße Maschine sahen, die durch die Luft sauste und schnellte. Es war denkbar, daß ihre RNS-Veränderung so weit fortgeschritten war, daß sie den Mechanismus nicht einmal mehr erkannten. Zwei klappten Vibradolche aus. Einer entblößte zehn Zentimeter lange Stahlkrallen. Einer brachte eine Projektilpistole mit drehbaren Läufen zum Vorschein.
Gladstone wollte nicht kämpfen. Sie wußte, was diese Tunichtgute von Dregs Stock nicht wußten, daß die Mikrofernsonde sie nämlich vor diesen fünf und hundert weiteren gleichzeitig beschützen konnte. Aber sie wollte nicht, daß jemand getötet wurde, nur weil sie sich Dregs Stock für ihren Spaziergang ausgesucht hatte.
»Haut ab!« sagte sie.
Die Jugendlichen sahen sie an, gelbe Augen, hervorquellende schwarze Augen, abgeschirmte Schlitze und photorezeptive Bauchbinden. Sie formierten sich zu einem Halbkreis und kamen zwei Schritte näher auf sie zu.
Meina Gladstone richtete sich auf, raffte das Cape um sich und ließ den Nicht-stören-Kragen soweit herunter, daß sie ihre Augen sehen konnten. »Haut ab!« sagte sie noch einmal.
Die Jugendlichen zauderten. Federn und Schuppen vibrierten in imaginären Brisen. An zweien wackelten Fühler, pulsierten Tausende sensitive Härchen.
Sie hauten ab. – Ihr Verschwinden war so rasch und lautlos wie ihr Erscheinen. Binnen einer Sekunde war nur noch das Tropfen von Wasser zu hören, und fernes Gelächter.
Gladstone schüttelte den Kopf, ließ ihr persönliches Portal erscheinen und ging hindurch.
Sol Weintraub und seine Tochter kamen von Barnards Welt. Gladstone sprang zu einem kleinen Terminex in ihrer
Weitere Kostenlose Bücher