Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
Heimatstadt Crawford. Es war Abend. Flache, weiße Häuser hinter gepflegten Rasenflächen kündeten vom guten Geschmack des Canadian Republic Revival und dem Sinn fürs Praktische der Farmer. Die Bäume waren hoch, mit breiten Ästen und erstaunlich getreu ihrem Erbe von der Alten Erde. Gladstone wandte sich vom Strom der Fußgänger ab, die zum überwiegenden Teil heimwärts eilten, nachdem sie einen Arbeitstag anderswo im Netz hinter sich gebracht hatten, und ging auf Plattenwegen an Backsteinhäusern vorbei und um ein Rasenoval herum. Links konnte sie Felder hinter einer Häuserzeile erkennen. Hohe, grüne Pflanzen, möglicherweise Mais, wuchsen in leise seufzenden Reihen, die sich zum fernen Horizont erstreckten, wo die Rundung einer riesigen roten Sonne gerade unterging.
Gladstone schlenderte über den Campus und fragte sich, ob dies das College war, wo Sol unterrichtet hatte, aber sie war nicht so neugierig, daß sie die Datensphäre befragt hätte. Gaslaternen entflammten unter dem Baldachin grüner Blätter, und in den Lücken wurden die ersten Sterne an einem Himmel sichtbar, der sich von Azur über Bernstein zu Ebenholz wandelte.
Gladstone hatte Weintraubs Buch Das Abraham-Dilemma gelesen, in dem er die Beziehung zwischen einem Gott, der das Opfer eines Sohnes verlangte, und der menschlichen Rasse analysierte, die sich darauf einließ. Weintraub hatte ausgeführt, daß der Jehova des Alten Testaments Abraham nicht einfach nur auf die Probe gestellt, sondern in der einzigen Sprache von Loyalität, Gehorsam und Opfer zu ihm gesprochen hatte, die die Menschheit an diesem Punkt der Beziehung verstand. Weintraub hatte die Botschaft des Neuen Testaments als Ankündigung eines neuen Stadiums dieser Beziehung gedeutet – eines Stadiums, wo die Menschheit nicht mehr Kinder einem Gott opfern würde, aus welchen Gründen auch immer, sondern wo Eltern – ganze Rassen von Eltern – statt dessen sich selbst darboten. Daher die Holocausts des zwanzigsten Jahrhunderts, der Kurze Schlagabtausch, die Dreierkriege, die tollkühnen Jahrhunderte und möglicherweise sogar der Große Fehler von '38.
Schließlich hatte Weintraub sämtliche Opfer abgelehnt, jegliche Beziehung mit einem Gott verweigert, es sei denn, sie würde auf gegenseitigem Respekt und dem Willen beruhen, einander zu verstehen. Er schrieb von den vielen Toden Gottes und der Notwendigkeit einer göttlichen Auferstehung, nachdem die Menschheit ihre eigenen Götter geschaffen und auf das Universum losgelassen hatte.
Gladstone überquerte eine zierliche Steinbrücke über einen im Schatten verborgenen Bach, dessen Verlauf nur an seinem Plätschern im Dunkeln zu erahnen war. Sanftes gelbliches Licht fiel auf Geländer aus handgemeißeltem Stein. Irgendwo außerhalb des Campus bellte ein Hund und wurde zum Schweigen gebracht. Im dritten Stock eines alten Hauses brannte Licht – ein Backsteingebäude mit Giebeln und einem Ziegeldach, das noch aus der Zeit vor der Hegira stammen mußte.
Gladstone dachte an Sol Weintraub und Sarai und ihre wunderschöne sechsundzwanzigj ährige Tochter, die nach einem Jahr archäologischer Entdeckungen auf Hyperion ohne Entdeckungen nach Hause zurückkehrte, dafür aber mit dem Fluch des Shrike: Merlins Krankheit. Sol und Sarai, die mit ansehen mußten, wie die Frau rückwärts alterte, zur Jugendlichen wurde, zum Kind, zum Kleinkind. Und dann Sol allein, nachdem Sarai bei einem sinnlosen, dummen EMV-Unfall ums Leben kam, als sie ihre Schwester besucht hatte.
Rachel Weintraub, deren nullter und letzter Geburtstag in weniger als drei Standardtagen sein würde.
Gladstone schlug mit der Faust auf Stein, zauberte das Portal herbei und trat hindurch.
Auf dem Mars war Mittag. Die Elendsviertel von Tharsis waren schon seit sechs Jahrhunderten oder länger Elendsviertel. Der Himmel war rosa, die Luft zu dünn und zu kalt für Gladstone, obwohl sie das Cape eng um den Hals geschlungen hatte, und überall wehte Staub. Sie schritt durch die schmalen Gassen und Klippenstege von Relocation City, fand aber nirgends eine freie Fläche, wo sie weiter sehen konnte als bis zur nächsten Gruppe von Schuppen oder tropfenden Filtertürmen. Es gab kaum Pflanzen hier – die großen Wälder der Begrünung waren für Feuerholz gefällt worden oder abgestorben und von rotem Sand bedeckt. Nur einige geschmuggelte Kakteen und wuschelige Dickichte parasitärer Spinnenflechte waren zwischen Wegen sichtbar, die von zwanzig Generationen bloßer Füße
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