Die Hyperion-Gesänge
Frau zwischen dem Abendessen und der
Schlafenszeit der beiden Kinder verschwunden ist. Dann versäumt Hoban Kristus, der abstrakte Implosionist, seine Performance im Amphitheater der Dichter Mitte der Woche, sein erstes Fehlen in zweiundachtzig Jahren auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Besorgnis macht sich breit. Der Traurige König Billy kehrt von seiner Arbeit als Aufseher der Restaurierung von Jacktown zurück und verspricht, dass die Sicherheitsmaßnahmen verbessert werden. Ein Sensornetz wird um die Stadt gewoben. Schiffssicherheitsoffiziere durchsuchen die Zeitgäber und melden, dass sie immer noch leer sind. Mechs werden in den Labyrintheingang am Fuß des Jadegrabs gesetzt und melden nach einer Sondierung von sechstausend Kilometern nichts. Automatische und bemannte Gleiter überfliegen das Gebiet zwischen der Stadt und dem Bridle Range und spüren nichts Größeres als die Körperwärme eines Felsenaals auf. Eine Woche lokaler Zeit verschwindet niemand mehr.
Dann fangen die Todesfälle an.
Der Bildhauer Pete Garcia wird in seinem Atelier gefunden … und in seinem Schlafzimmer … und draußen im Garten. Und Schiffssicherheitsmanager Truin Hines ist dumm genug, einem Reporter zu sagen: »Als wäre er von einem tollwütigen Tier zerfetzt worden. Aber kein Tier, das ich kenne, könnte einen Menschen so zurichten.«
Insgeheim sind wir alle aufgeregt und gespannt. Sicher, die Dialoge sind beschissen, wie die aus einer Million Filmen und Holies, mit denen wir uns gegruselt haben, aber jetzt sind wir mittendrin.
Der Verdacht richtet sich auf das Offensichtliche: Ein Psychopath ist unter uns und tötet wahrscheinlich mit einem Pulsiermesser oder einer Höllenpeitsche. Dieses Mal hatte er – oder sie – keine Zeit mehr, die Leiche wegzuschaffen. Armer Pete.
Schiffssicherheitsmanager Hines wird gefeuert, Stadtverwalter Pruett bekommt von Seiner Majestät die Erlaubnis, eine bewaffnete städtische Polizeitruppe von etwa fünfundzwanzig Mann zu rekrutieren, zu bewaffnen und auszubilden. Man spricht davon, die gesamte Stadtbevölkerung, etwa sechstausend Menschen, einem Lügendetektorverhör zu unterziehen. In den Straßencafés wird hitzig über Bürgerrechte diskutiert. Rechtlich standen wir außerhalb der Hegemonie – hatten wir überhaupt Rechte? Und haarsträubende Pläne werden geschmiedet, den Mörder zu fangen.
Dann fängt das Gemetzel an.
Die Morde folgten keinem ersichtlichen Schema. Leichen wurden zu zweien und dreien gefunden – oder allein – oder gar nicht. Manche verschwanden unblutig; bei anderen blieb literweise Blut zurück. Es gab keine Zeugen, keine Überlebenden eines Angriffs. Der Schauplatz schien unbedeutend zu sein: Die Familie Weimont lebte in einem der umliegenden Dörfer, aber Sira Rob verließ ihr Turmatelier im Stadtzentrum nie; zwei Opfer verschwanden allein, des Nachts, offenbar beim Spazierengehen im Zen-Garten, aber Kanzler Lehmans Tochter hatte private Leibwächter und verschwand trotzdem, als sie allein im Bad im siebten Stock des Palastes des Traurigen Königs Billy war.
Auf Lusus oder Tau Ceti Center oder einem Dutzend anderen Welten im Netz sorgt der Tod von einigen tausend Menschen nur für unbedeutende Schlagzeilen – Thema für die Kurzmeldungen der Datensphäre oder den Innenteil der Morgenzeitungen –, aber in einer Stadt mit sechstausend Menschen auf einer Kolonie mit fünfzigtausend ziehen ein Dutzend Morde – wie die sprichwörtliche Strafe, bei Sonnenaufgang gehängt zu werden – reichlich Aufmerksamkeit auf sich.
Ich kannte eines der ersten Opfer. Sissipriss Harris war eine
meiner ersten Eroberungen als Satyr gewesen – und eine meiner enthusiastischsten –, ein wunderschönes Mädchen mit langem, blondem Haar, das zu seidig wirkte, um wahr zu sein, einer frischen Pfirsichhaut, die so jungfräulich wirkte, dass man sie kaum zu berühren wagte, eine Schönheit, die man nicht glauben wollte: genau der Typ Mädchen, der selbst im schüchternsten Mann Vergewaltigungsfantasien weckt. Nun hatte man Sissipriss ernsthaft Gewalt angetan. Sie fanden nur ihren Kopf, der aufrecht mitten auf der Lord Byron Plaza lag, so als wäre sie bis zum Hals in Gussmarmor begraben worden. Als ich diese Einzelheiten hörte, wusste ich genau, mit welcher Art von Geschöpf wir es zu tun hatten, denn eine Katze, die ich auf Mutters Anwesen gehabt hatte, hatte fast jeden Morgen ähnliche Opfergaben auf der Südveranda hinterlassen: den Kopf einer Maus etwa,
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