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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Seiten.
    »Machen Sie ein Ende!«, stöhnte König Billy. »Martin, bei der Barmherzigkeit Gottes!«

    Ich hob das Feuerzeug auf, das er fallengelassen hatte. Das Shrike bewegte sich nicht. Blut tränkte die schwarzen Stellen von Billys Gewand, bis sie mit den bereits vorhandenen scharlachroten Flicken verschmolzen. Ich drehte das uralte Feuerzeug einmal mit dem Daumen, zweimal, dreimal – nur Funken. Durch meine Tränen konnte ich mein Lebenswerk in dem staubigen Brunnen liegen sehen. Ich ließ das Feuerzeug fallen.
    Billy schrie. Ich hörte Klingen, die durch knackende Knochen fuhren, während er sich in der Umarmung des Shrike wand. »Machen Sie ein Ende!«, schrie er. »Martin … O Gott!«
    Da drehte ich mich um, lief fünf Schritte und warf den halb vollen Eimer Petroleum. Dämpfe machten meine ohnedies verschwommene Sicht noch verschwommener. Billy und das unmögliche Geschöpf, das ihn hielt, waren durchnässt wie zwei Komiker in einem Slapstickholie. Ich sah, wie Billy blinzelte und prustete, sah die Feuchtigkeit auf der Haut des Shrike den meteorgleißenden Himmel reflektieren, und dann entzündeten die schwelenden Seiten in Billys Fäusten das Petroleum.
    Ich hob die Hände, um das Gesicht zu schützen – zu spät, Bart und Augenbrauen schmorten und sengten –, und taumelte zurück, bis mich der Rand des Brunnens aufhielt.
    Für einen Augenblick war der Scheiterhaufen eine perfekte Skulptur aus Flammen, eine blaue und gelbe Pietà mit einer vierarmigen Madonna, die eine brennende Christusgestalt hielt. Dann wandte sich die brennende Gestalt, die immer noch von den stählernen Dornen und mehreren skalpellgleichen Klauen gehalten wurde, und zuckte, und ein Schrei gellte. Bis zum heutigen Tag kann ich nicht glauben, dass dieser Schrei von der menschlichen Hälfte dieses Paars im Todeskampf stammte. Der Schrei erschütterte mich derart, dass ich auf die Knie sank, er hallte von jeder Oberfläche in der
Stadt wider und jagte die Tauben scharenweise himmelwärts. Der Schrei dauerte noch Minuten an, nachdem die flammende Erscheinung einfach aufgehört hatte zu sein und weder Asche noch ein Glühen auf der Netzhaut hinterlassen hatte. Ich brauchte noch eine ganze Zeit, bis ich merkte, dass der Schrei, den ich jetzt hörte, mein eigener war.
     
    Antiklimax ist selbstverständlich der Lauf der Dinge. Das wirkliche Leben konstruiert selten eine anständige Auflösung.
    Ich brauchte mehrere Monate, vielleicht ein Jahr, um die petroleumgetränkten Seiten der Gesänge nochmals abzuschreiben und die verbrannten neu zu verfassen. Es wird niemanden überraschen, dass ich das Gedicht nicht zu Ende geschrieben habe. Es war nicht meine Entscheidung. Meine Muse war geflohen.
    Die Stadt der Dichter verfiel in Frieden. Ich blieb noch ein Jahr oder zwei, vielleicht auch fünf, ich weiß es nicht; ich war in den Krallen des Wahnsinns. Bis auf den heutigen Tag berichten die Aufzeichnungen früher Pilger zum Shrike von einer hageren, haarigen Gestalt in Lumpen und mit vorquellenden Augen, die sie aus ihrem Gethsemaneschlaf weckte, indem sie Obszönitäten schrie und den stummen Zeitgräbern mit den Fäusten drohte und den Feigling darin aufforderte, sich zu zeigen.
    Schließlich brannte der Wahnsinn aus – obwohl die Schlacke immer glühen wird –, und ich legte die fünfzehnhundert Kilometer zur Zivilisation zurück; im Rucksack hatte ich nur das Manuskript und ich ernährte mich von Felsaalen und Schnee, und die letzten zehn Tage von gar nichts mehr.
    Die zweieinhalb Jahrhunderte, die seither vergangen sind, sind nicht der Rede wert, geschweige denn, sie noch einmal zu durchleben. Poulsenbehandlungen, damit das Instrument funktionsfähig und bereit blieb. Zwei lange, kalte Schlafperioden
bei illegalen kryonischen Unterlichtflügen; jede schluckte ein Jahrhundert oder mehr, jede forderte ihren Preis an Gehirnzellen und Erinnerungen.
    Ich wartete damals. Ich warte heute noch. Das Gedicht muss vollendet werden. Es wird vollendet werden.
    Am Anfang war das Wort.
    Am Ende – jenseits von Ehre, jenseits des Lebens, jenseits des Kümmerns …
    Am Ende wird das Wort sein.

VIERTER TEIL
    Die Benares erreichte Edge kurz nach Mittag des nächsten Tages. Einer der Mantas war, nur zwanzig Kilometer flussabwärts von ihrem Ziel, in seinem Zaumzeug gestorben, A. Bettik hatte ihn losgeschnitten. Der andere hatte durchgehalten, bis sie an dem ausgebleichten Pier angelegt hatten, dann hatte er sich in völliger Erschöpfung umgedreht

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