Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
Chronos Keep, Luftgleiter zum Bridle Range, Windwagen und dann die Charonbarke den Hoolie hinab. Immer wenn ich zurückkam, betrachtete ich die Pilger und fragte mich, wer überleben würde.
    Wenige besuchten die Stadt der Dichter. Unsere halb vollendeten Türme sahen wie verfallene Ruinen aus. Die Galerien mit ihren prächtigen Kuppeln aus Metall und Glas wurden zunehmend von Reben überwuchert; Pyronesseln und Narbengras wuchsen aus den Fugen der Bodenplatten. Die SST trug ihren Teil zum Chaos bei, indem sie Minen und Fallen aufstellte, um das Shrike zu fangen, damit aber lediglich einstmals schöne Teile der Stadt verwüstete. Die Bewässerung brach zusammen. Der Aquädukt stürzte ein. Die Wüste rückte näher. Ich zog in König Billys verlassenem Palast von einem Saal zum anderen, arbeitete an meinem Gedicht und wartete darauf, dass meine Muse kommen würde.
     
    Wenn man darüber nachdenkt, erinnern Ursache und Wirkung einer verrückten Logikschleife des Datenkünstlers Carolus oder einem Druck von Escher: Das Shrike war durch die beschwörende Kraft meines Gedichts ins Leben gerufen worden, aber das Gedicht hätte ohne die Bedrohung, die Präsenz des Shrike als Muse nicht existieren können. Vielleicht war ich damals ein bisschen verrückt.
    Innerhalb eines Dutzends Jahren dezimierte der plötzliche Tod die Stadt der Dilettanten, bis nur noch das Shrike und ich übrig blieben. Der jährliche Pilgerzug zum Shrike war eine zu vernachlässigende Strömung, eine ferne Karawane, die durch die Wüste zu den Zeitgräbern zog. Manchmal kamen einige wenige Gestalten zurück und flohen über scharlachroten
Sand in den Schutz des zwanzig Kilometer südwestlich gelegenen Chronos Keep. Häufiger kam gar niemand zurück.
    Ich verfolgte das alles aus dem Schatten der Stadt. Mein Haar und der Bart waren gewachsen, bis sie teilweise die Fetzen bedeckten, in die ich gekleidet war. Ich kam meistens nachts heraus, schlich wie ein verstohlener Schatten durch die Ruinen und sah manchmal zu einem erleuchteten Fenster des Palastes empor wie David Hume, der in sein eigenes Fenster blickte und entschied, dass er nicht zu Hause war. Ich brachte den Nahrungsmittelsynthetisator nie von der Speisekuppel in mein Gemach, sondern zog es stattdessen vor, in der hallenden Stille unter dem gesplitterten duomo zu essen wie ein lethargischer Eloi, der sich freiwillig für den unausweichlichen Morlock mästete.
    Das Shrike bekam ich nie zu Gesicht. In vielen Nächten erwachte ich kurz vor Anbruch der Dämmerung aus dem Schlaf, weil ich ein Geräusch hörte – das Kratzen von Metall auf Stein, das Knirschen von Sand unter einem Fuß –, aber wenngleich ich häufig sicher war, dass ich beobachtet wurde, sah ich den Beobachter nie.
    Manchmal unternahm ich den kurzen Ausflug zu den Zeitgräbern, meistens nachts, und mied den sanften, beunruhigenden Sog der antientropischen Zeitgezeiten, während ich unter den Flügeln der Sphinx durch komplexe Schatten schritt oder durch den smaragdfarbenen Wall des Jadegrabs die Sterne betrachtete. Als ich von einem dieser nächtlichen Ausflüge nach Hause kam, fand ich einen Eindringling in meinem Arbeitszimmer.
    »Eindrucksvoll, M-M-Martin«, sagte König Billy und klopfte auf einen von mehreren Manuskriptstapeln, die im Zimmer verteilt waren. Der gescheiterte Monarch, der in einem übergroßen Ohrensessel an dem langen Tisch saß, sah älter und geschmolzener denn je aus. Es war offensichtlich, dass
er mehrere Stunden lang gelesen hatte. »Glauben S-ssie w-w-wirklich, dass die Me-Me-Menschheit so ein E-E-Ende verdient hat?«, fragte er leise. Es war zwölf Jahre her, seit ich das Stottern zum letzten Mal gehört hatte.
    Ich ging von der Tür weg, antwortete aber nicht. Billy war mir über zwanzig Standardjahre lang ein Freund und Gönner gewesen, doch in diesem Augenblick hätte ich ihn umbringen können. Der Gedanke, dass jemand meine Hyperionischen Gesänge ohne meine Zustimmung gelesen hatte, machte mich wütend.
    »Da-Da-Datieren Sie Ihre Ge-Ge-Gesänge?«, sagte König Billy und blätterte den neuesten Manuskriptstapel durch.
    »Wie sind Sie hierhergekommen?«, fauchte ich. Es war keine müßige Frage. In den zurückliegenden Jahren hatten Gleiter, Landungsboote und Helikopter nicht viel Glück gehabt, wenn sie zum Gebiet der Zeitgräber geflogen waren – die Maschinen trafen ohne Passagiere ein. Das hatte Wunder gewirkt, den Shrike-Mythos anzukurbeln.
    Der kleine Mann im zerknitterten Cape zuckte mit

Weitere Kostenlose Bücher