Die Hyperion-Gesänge
die?
Mysterien-Priester, diese Färse hier
Zu welchem grünen Altar führst du sie
Die brüllt, an seidnen Flanken blühnde Zier?
Welch kleine Stadt am Flusse oder Meer,
Vielleicht ein Bergnest, dem die Burg hier frommt,
Ist in geweihter Frühe so verwaist?
Und, kleine Stadt, sie bleiben ewig leer
Hier deine Straßen, auch nicht Einer kommt
Zurück und sagt, was du verlassen seist.«
Brawne Lamia griff unter ihr Gewand und zog einen Schneidlaser heraus, der nicht größer als ihr kleiner Finger war. Sie richtete ihn auf den Kopf des Dichters. »Sie widerlicher kleiner Scheißer. Noch ein Wort von Ihnen, und … Ich schwöre, ich erschieße Sie, wo Sie stehen.«
Plötzlich herrschte Totenstille, abgesehen vom Ächzen und Knirschen des Schiffs im Hintergrund. Der Konsul ging auf Martin Silenus zu. Oberst Kassad stellte sich zwei Schritte hinter Lamia.
Der Dichter trank einen großen Schluck und lächelte der dunkelhaarigen Frau zu. Seine Lippen waren feucht. »O baue dein Schiff des Todes«, flüsterte er. »Baue es!«
Lamias Finger um den Laser waren weiß. Der Konsul rückte näher zu Silenus und wusste nicht, was er machen sollte, während er sich vorstellte, wie sich der Lichtstrahl zwischen seine Augen brannte. Kassad beugte sich wie ein zwei Meter langer verdichteter Schatten zu Lamia.
»Madam«, sagte Sol Weintraub, der auf einer Truhe an der gegenüberliegenden Wand saß, »muss ich Sie daran erinnern, dass ein Kind anwesend ist?«
Lamia sah nach rechts. Weintraub hatte eine Schublade aus einer Kommode des Schiffs gezogen und als Wiege auf das Bett gestellt. Er hatte das Baby gebadet und war, kurz bevor der Poet das Gedicht aufgesagt hatte, lautlos eingetreten. Jetzt legte er das Baby behutsam in das gepolsterte Nest.
»Tut mir leid«, sagte Brawne Lamia und ließ den Laser sinken. »Er macht mich nur so … wütend.«
Weintraub nickte und wiegte die Schublade sachte. Das sanfte Rollen des Windwagens und das konstante Brummen des großen Rads schienen das Baby bereits in den Schlaf gewiegt zu haben. »Wir sind alle müde und nervös«, sagte der Gelehrte. »Vielleicht sollten wir unsere Unterkünfte für die Nacht aufsuchen und uns hinlegen.«
Die Frau nickte und steckte die Waffe in den Gürtel. »Ich kann nicht schlafen«, sagte sie. »Es ist alles zu … seltsam.«
Andere nickten. Martin Silenus saß auf dem breiten Sims unter den Heckfenstern. Nun zog er die Beine an, trank einen Schluck und sagte zu Sol Weintraub: »Erzählen Sie uns Ihre Geschichte, alter Mann!«
»Ja«, sagte Pater Hoyt. Der Priester sah bis zur Leichenhaftigkeit erschöpft aus, aber seine fiebrigen Augen glühten. »Erzählen
Sie! Wir müssen alle Geschichten hören und Zeit zum Nachdenken haben, bevor wir ankommen.«
Weintraub strich mit einer Hand über seinen kahlen Schädel. »Es ist eine langweilige Geschichte«, sagte er. »Ich war bisher noch nie auf Hyperion. Ich habe keine Konfrontationen mit Ungeheuern und keine Heldentaten zu schildern. Es ist die Geschichte eines Mannes, dessen Vorstellung von einem epischen Abenteuer es ist, ohne Manuskript vor seinen Studenten zu sprechen.«
»Umso besser«, sagte Martin Silenus. »Wir brauchen alle ein Schlafmittel.«
Sol Weintraub seufzte, rückte die Brille zurecht und nickte. Ein paar dunkle Strähnen waren noch in seinem weißen Bart. Er drehte die Laterne über dem Bett des Babys herunter und rückte den Stuhl näher in die Mitte des Zimmers.
Der Konsul drehte die anderen Lampen auch dunkler und schenkte allen, die wollten, mehr Kaffee ein.
Sol Weintraub sprach langsam, er drückte sich sorgfältig aus und wählte die Worte mit Bedacht, und es dauerte nicht lange, bis sich die sanften Kadenzen seiner Geschichte mit dem leisen Rumpeln und langsamen Wiegen des nach Norden fahrenden Windwagens vereinten.
Die Geschichte des Gelehrten: Der Fluss Lethe schmeckt bitter
Sol Weintraub und seine Frau Sarai hatten schon vor der Geburt ihrer kleinen Tochter Freude an ihrem Leben gehabt, doch Rachel machte alles so perfekt, wie es sich das Paar nur vorstellen konnte.
Sarai war siebenundzwanzig, als das Kind empfangen wurde,
Sol neunundzwanzig. Sie hatten beide nicht an PoulsenBehandlungen gedacht, weil sie sich keine leisten konnten, aber auch ohne derartige Unterstützung freuten sie sich auf weitere fünfzig gesunde Jahre.
Beide hatten ihr ganzes Leben auf Barnards Welt verbracht, einem der ältesten, aber langweiligsten Hegemoniemitglieder. Barnard gehörte zum
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