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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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so. Die Poulsen-Behandlungen werden in einem oder zwei Jahren aufhören zu wirken.«
    »Sarai, weißt du nicht mehr? Die Ärzte haben gesagt, dass Rachel die kryonische Fuge nicht überleben kann. Niemand erlebt FTL-Flüge ohne Fugenstadium. Der Hawking-Effekt kann einen wahnsinnig machen – oder Schlimmeres.«

    »Unwichtig«, sagte Sarai. »Rachel muss nach Hyperion zurückkehren.«
    »Um Himmels willen, wovon redest du?«, fragte Sol böse.
    Sarai nahm seine Hand. »Glaubst du, du bist der Einzige, der den Traum gehabt hat?«
    »Traum?«, brachte Sol heraus.
    Sie seufzte und setzte sich an den weißen Küchentisch. Morgenlicht fiel wie ein gelber Scheinwerfer auf die Topfpflanzen. »Der dunkle Saal«, sagte sie. »Die roten Lichter in der Höhe. Die Stimme. Die uns sagt … uns sagt … sie zu nehmen … nach Hyperion zu gehen. Ein … ein Opfer darzubringen.«
    Sol leckte sich die Lippen, aber sie waren trocken. Sein Herz klopfte. »Wessen Name … wessen Name wird gerufen?«
    Sarai sah ihn seltsam an. »Unsere beiden Namen. Wenn du nicht bei mir gewesen wärst … in dem Traum bei mir … hätte ich es nie die ganzen Jahre ertragen können.«
    Sol sank auf den Stuhl. Er betrachtete die seltsame Hand und den Unterarm, die auf dem Tisch lagen. Die Knöchel der Hand schwollen wegen Arthritis an; der Unterarm wies dicke Adern auf und Leberflecke. Es war seine Hand. Er hörte sich sagen: »Du hast es nie erwähnt. Nie ein Wort gesagt …«
    Dieses Mal war Sarais Lachen ohne Erbitterung. »Als wäre das nötig gewesen! Wie oft sind wir beide in der Dunkelheit aufgewacht. Du schweißgebadet. Ich wusste von Anfang an, dass es nicht bloß ein Traum war. Wir müssen gehen, Vater. Nach Hyperion.«
    Sol bewegte die Hand. Sie schien immer noch kein Teil von ihm zu sein. »Warum? Um Himmels willen, warum, Sarai? Wir können … Wir können Rachel nicht opfern … «
    »Natürlich nicht, Vater. Hast du nicht darüber nachgedacht? Wir müssen nach Hyperion … dorthin, wohin uns der Traum befiehlt … und uns stattdessen opfern.«
    »Uns opfern«, wiederholte Sol. Er fragte sich, ob er einen
Herzanfall hatte. Seine Brust tat so schrecklich weh, dass er keine Luft bekam. Er saß eine ganze Minute lang stumm da und war überzeugt, wenn er versuchen würde zu sprechen, würde er nur ein Schluchzen herausbringen. Nach einer weiteren Minute sagte er: »Wie lange hast du … darüber nachgedacht, Mutter?«
    »Meinst du gewusst , was wir tun müssen? Ein Jahr. Etwas mehr. Seit ihrem fünften Geburtstag.«
    »Ein Jahr! Warum hast du nichts gesagt?«
    »Ich habe darauf gewartet, dass du es einsiehst. Dass du es weißt .«
    Sol schüttelte den Kopf. Das Zimmer schien weit entfernt und leicht schief. »Nein. Ich meine, es scheint nicht … Ich muss nachdenken , Mutter.« Sol sah zu, wie die fremde Hand Sarais vertraute Hand tätschelte.
    Sie nickte.
     
    Sol verbrachte drei Tage und drei Nächte in den kargen Bergen, aß nur das kross gebackene Brot, das er mitgebracht hatte, und trank aus der Thermoskanne.
    In den vergangenen zwanzig Jahren hatte er sich zehntausendmal gewünscht, er könnte Rachels Krankheit auf sich nehmen; wenn jemand leiden musste, sollte es der Vater sein, nicht das Kind. Alle Eltern hätten so empfunden – empfanden so, wenn das Kind verletzt oder mit Fieber im Bett lag. Aber sicher konnte es nicht so einfach sein.
    In der Hitze des dritten Nachmittags, als er halb dösend im Schatten eines dünnen Felsüberhangs lag, erfuhr Sol, dass es nicht so einfach war.
    – Kann das Abrahams Antwort an Gott gewesen sein? Dass er das Opfer sein würde, nicht Isaak?
    – Die von Abraham hätte es sein können. Deine kann es nicht sein.
    – Warum nicht?

    Wie als Antwort hatte Sol eine Fiebervision nackter Erwachsener, die an bewaffneten Männern vorbei zu den Öfen schritten, von Müttern, die ihre Kinder unter Mantelstapeln versteckten. Er sah Männer und Frauen, deren Haut in verbrannten Fetzen herabhing, die bewusstlose Kinder aus der Asche trugen, die einmal eine Stadt gewesen war. Sol wusste, diese Bilder waren keine Träume, sondern Szenen aus dem Ersten und Zweiten Holocaust, und als er das begriffen hatte, wusste er, noch ehe die Stimme in seinen Gedanken weitersprach, wie die Antwort ausfallen würde. Ausfallen musste.
    – Die Eltern haben sich selbst dargeboten. Das Opfer ist schon akzeptiert worden. Das haben wir hinter uns.
    – Was dann? Was!
    Schweigen antwortete ihm. Sol stellte sich in die

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