Die Hyperion-Gesänge
seinem Verstand zweifeln.
Aber die Dialoge gingen weiter.
Sol wollte wissen, wie ein ethisches System – ganz zu schweigen von einer so unbezwinglichen Religion, die jedes Böse überlebt hatte, das die Menschheit ihr antun konnte – aus einem Befehl Gottes an einen Mann entstehen konnte, seinen Sohn zu töten. Für ihn war einerlei, dass der Befehl im letzten Augenblick zurückgenommen worden war. Die Vorstellung, dass es Abrahams Gehorsam war, der ihm ermöglicht hatte, Stammvater sämtlicher Stämme von Israel zu werden, machte Sol ja gerade so wütend.
Nachdem er fünfundfünfzig Jahre seines Lebens der Arbeit an ethischen Systemen gewidmet hatte, war Sol Weintraub zu einer einzigen, unerschütterlichen Schlussfolgerung gelangt: Der Glaube an eine Gottheit oder ein Konzept oder ein universelles Prinzip, der Gehorsam höher wertete als anständiges Verhalten gegenüber einem unschuldigen Menschen, war böse.
– Dann definiere »unschuldig« , lautete die leicht amüsierte, etwas quengelige Stimme, die Sol mit diesen Streitgesprächen assoziierte.
– Ein Kind ist unschuldig, dachte Sol. Isaak war es. Rachel ist es.
– »Unschuldig« allein aufgrund der Tatsache, Kind zu sein?
– Ja.
– Und es gibt keine Situation, in der das Blut Unschuldiger für eine größere Sache vergossen werden muss?
– Nein, dachte Sol. Keine.
– Aber ich nehme an, »unschuldig« ist nicht nur auf Kinder beschränkt?
– Sol zögerte, spürte eine Falle und versuchte vorauszuahnen, wohin ihn sein unsichtbarer Gesprächspartner führen wollte. Er konnte es nicht. Nein, dachte er, »unschuldig« sind auch andere, nicht nur Kinder.
– Wie Rachel? Mit vierundzwanzig? Die Unschuldigen sollten in keinem Alter geopfert werden?
– Ganz recht.
– Vielleicht gehört das zu der Lektion, die Abraham lernen musste, bevor er zum Stammvater der gesegnetesten Nation der Erde werden konnte.
– Was für eine Lektion?, dachte Sol. Was für eine Lektion? Aber die Stimme in seinen Gedanken war verstummt; jetzt hörte er nur noch die Laute der Nachtvögel draußen und das leise Atmen der Frau neben sich.
Mit fünf Jahren konnte Rachel noch lesen. Sol konnte sich nicht erinnern, wann sie lesen gelernt hatte – ihm schien, als hätte sie es immer gekonnt. »Vier Standard«, sagte Sarai. »Es war im Frühsommer – drei Monate nach ihrem Geburtstag. Wir haben auf der Wiese über dem College ein Picknick gemacht. Rachel hat ihr Winnie-Puuh-Buch angesehen und plötzlich gesagt: ›Ich höre eine Stimme in meinem Kopf.‹«
Da fiel es Sol wieder ein.
Er erinnerte sich auch an die Freude, die er und Sarai empfunden hatten, weil Rachel sich für ihr Alter so schnell immer neue Fähigkeiten angeeignet hatte. Er erinnerte sich daran, weil sie jetzt die Umkehr dieses Prozesses erlebten.
»Dad«, sagte Rachel, die auf dem Boden in seinem Arbeitszimmer lag und sorgfältig ein Malbuch ausmalte, »wie lange ist es seit Moms Geburtstag her?«
»Das war Montag«, sagte Sol, der mit seiner Lektüre beschäftigt war. Sarai hatte noch nicht Geburtstag gehabt, aber Rachel erinnerte sich daran.
»Ich weiß. Aber wie lange ist es seitdem her?«
»Heute ist Donnerstag«, sagte Sol. Er las eine lange Abhandlung über Gehorsam im Talmud.
»Ich weiß. Aber wie viele Tage?«
Sol legte das Buch weg. »Kannst du die Wochentage aufsagen?« Barnards Welt hatte den alten Kalender benützt.
»Klar«, sagte Rachel. »Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag.«
»Samstag hast du schon gesagt.«
»Ja. Aber vor wie vielen Tagen ?«
»Kannst du von Montag bis Donnerstag zählen?«
Rachel runzelte die Stirn und bewegte die Lippen. Sie versuchte es noch einmal, und diesmal zählte sie mit den Fingern. »Vier Tage?«
»Gut«, sagte Sol. »Kannst du mir sagen, was zehn minus vier ist, Kleines?«
»Was heißt minus?«
Sol zwang sich, wieder in sein Buch zu schauen »Nichts«, sagte er. »Das lernst du in der Schule.«
»Wenn wir morgen nach Hause gehen?«
»Ja.«
Eines Morgens, als Rachel mit Judy zu den anderen Kindern zum Spielen ging – sie war jetzt zu jung, noch zur Schule zu gehen –, sagte Sarai: »Sol, wir müssen sie nach Hyperion bringen.«
Sol sah sie an. »Was?«
»Du hast schon richtig gehört. Wir können nicht warten, bis sie so jung ist, dass sie nicht mehr laufen kann – oder sprechen. Und wir werden auch nicht jünger.« Sarai lachte humorlos. »Hört sich komisch an, was? Aber es ist
Weitere Kostenlose Bücher