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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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ihn, aber er achtete darauf, dass Rachel jeden Morgen ihn als Erstes sah. Er nahm sie in den Arm, während sie Fragen stellte.
    »Wo sind wir, Daddy?«
    »An einem wunderschönen Ort, Kleines. Ich erzähle dir beim Frühstück davon.«
    »Wie sind wir hierhergekommen?«
    »Wir sind gecastet und geflogen und ein Stück gelaufen«, sagte er. »Es ist nicht so weit weg – aber weit genug, dass es ein Abenteuer ist.«
    »Aber mein Bett ist hier … meine Stofftiere … Warum kann ich mich nicht erinnern, wie wir hierhergekommen sind?«
    Und Sol hielt sie zärtlich an den Schultern und sah ihr in die braunen Augen und sagte: »Du hast einen Unfall gehabt, Rachel. Weißt du noch, wie Terrence in Die heimwehkranke Kröte sich den Kopf angeschlagen und ein paar Tage vergessen hat, wo er wohnt? So ähnlich ist es bei dir auch gewesen.«

    »Geht es mir wieder besser?«
    »Ja«, sagte Sol, »jetzt geht es dir wieder viel besser.« Und der Geruch von Frühstück zog durch das Haus, und sie gingen auf die Terrasse hinaus, wo Sarai wartete.
     
    Rachel hatte mehr Spielkameraden denn je. Die Kibbuzkooperative hatte eine Schule, wo sie stets gerngesehener Gast war und jeden Tag neu begrüßt wurde. An den langen Nachmittagen spielten die Kinder in den Hainen oder gingen bei den Klippen auf Entdeckungsreise.
    Avner, Robert und Ephraim, die Ratsältesten, bedrängten Sol, an seinem Buch zu arbeiten. Hebron war stolz auf die Vielzahl von Gelehrten, Künstlern, Musikern, Philosophen, Schriftstellern und Komponisten, die zu seinen Bürgern gehörten oder Dauergäste waren. Das Haus, bekräftigten sie, war ein Geschenk des Staates. Sols Pension war nach Maßstäben im Netz gering, reichte aber bei Weitem für ihre bescheidenen Bedürfnisse in K’far Shalom aus. Doch Sol musste zu seiner eigenen Überraschung feststellen, dass ihm körperliche Arbeit Spaß machte. Ob er in den Hainen arbeitete oder Steine auf unbebauten Feldern sammelte oder eine Mauer über der Stadt ausbesserte – er stellte fest, dass sein Geist und seine Seele so frei waren wie seit vielen Jahren nicht mehr. Er stellte fest, dass er sich mit Kierkegaard beschäftigen konnte, während er darauf wartete, dass der Mörtel trocknete, und neue Einsichten in Kant und Vandeur erlangte, während er die Äpfel sorgfältig nach Würmern absuchte. Im Alter von dreiundsiebzig Standardjahren bekam Sol seine ersten Schwielen.
    Abends spielte er mit Rachel und ging dann mit Sarai auf den Hügeln spazieren, während Judy oder eines der anderen Mädchen aus der Nachbarschaft auf das schlafende Kind aufpassten. Am Wochenende fuhren sie nach Neu-Jerusalem, nur Sol und Sarai, und es war das erste Mal, dass sie allein etwas
unternahmen, seit Rachel vor siebzehn Standardjahren zurückgekehrt war.
    Aber nicht alles war idyllisch. Zu oft wachte Sol nachts auf, ging barfuß auf den Flur und sah Sarai, die die schlafende Rachel betrachtete. Und am Ende manch eines langen Tages, wenn er Rachel in der Keramikwanne badete oder sie ins Bett brachte, während die Mauern rosa leuchteten, sagte das Kind: »Es gefällt mir hier, Daddy, aber können wir morgen nach Hause gehen?« Und Sol nickte. Nach der Gutenachtgeschichte, dem Schlaflied und dem Gutenachtkuss, wenn er sicher war, dass sie schlief, schlich er auf Zehenspitzen zur Tür und hörte das gemurmelte »Later, alligator« von der zugedeckten Gestalt im Bett, worauf er »While, crocodile« antworten musste. Und wenn er selbst im Bett lag, neben der leise atmenden, wahrscheinlich schlafenden Frau, die er liebte, beobachtete Sol, wie die Lichtstreifen von einem oder beiden der Monde Hebrons über die rauhen Wände wanderten, und sprach mit Gott.
     
    Sol sprach einige Monate mit Gott, bis ihm klar wurde, was er da machte. Die Vorstellung erheiterte ihn. Die Dialoge waren keineswegs Gebete, sondern nahmen häufig die Form wütender Monologe an, die – kurz bevor sie in Schmähungen ausarteten  – zu erbitterten Streitgesprächen mit sich selbst wurden. Aber nicht nur mit sich selbst. Sol wurde eines Tages klar, die Themen der hitzigen Debatten waren so profund, die Meinungsverschiedenheiten, die ausgetragen wurden, so ernst und die Themenvielfalt so breit, dass der Einzige, dem er alle Unzulänglichkeiten vorwerfen konnte, Gott selbst war. Da die Vorstellung von Gott als Person, die nachts wach lag und sich Gedanken über die Menschen machte, Sol so durch und durch absurd erschien, ließ ihn der Gedanke an diese Zwiegespräche an

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