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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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kann.
    Siris Grab.
    Ich bleibe stehen. Der Wind macht mich frösteln, obwohl die Sonne durchaus warm ist und auf den makellos weißen Wänden des stillen Mausoleums funkelt. In der Nähe des versiegelten Eingangs zur Gruft ist das Gras hoch. Reihen verblichener Festwimpel auf Ebenholzstäben säumen den schmalen Kiesweg.

    Ich kann mich eines Lächelns nicht erwehren. Ich kenne den Ausblick von hier: die große Kurve des äußeren Hafenbeckens mit seinem natürlichen Wall zum Meer, die flachen weißen Gebäude von Firstsite, die bunten Hüllen und Masten der Katamarane, die schaukelnd vor Anker liegen. Am Kiesstrand hinter der Stadthalle geht eine junge Frau im weißen Rock zum Wasser. Für einen Augenblick denke ich, es ist Siri, und mein Herz klopft. Ich bereite mich halb darauf vor, als Antwort auf ihr Winken die Arme hochzureißen, aber sie winkt nicht. Ich verfolge stumm, wie die ferne Gestalt sich abwendet und zwischen den Schatten der alten Schiffshallen verschwindet.
    Über mir zieht weit von der Klippe entfernt ein großer Thomasfalke seine Kreise über der Lagune, lässt sich von den Aufwinden tragen und sucht die Blaukelpbeete mit seiner Infrarotsicht nach Heurobben oder Torpids ab. Die Natur ist dumm, denke ich und setze mich ins weiche Gras. Die Natur bereitet die Bühne völlig falsch für so einen Tag und dann ist sie auch noch unverständig genug, einen Vogel nach Beute suchen zu lassen, die längst aus den verschmutzten Gewässern rings um die Stadt geflohen ist.
    Ich erinnere mich an einen anderen Thomasfalken in der ersten Nacht, als Siri und ich auf diesen Hügel gekommen waren. Ich erinnere mich an das Mondlicht auf seinen Schwingen und seinen seltsam quälenden Ruf, der von den Klippen hallte und die Dunkelheit über den Gaslaternen des Dorfes unten zu durchschneiden schien.
    Siri war sechzehn – nein, noch keine sechzehn – und das Mondlicht, das die Schwingen des Falken über uns berührte, bemalte auch ihre nackte Haut mit milchigem Leuchten und warf Schatten unter die sanften Halbrunde ihrer Brüste. Wir sahen schuldbewusst auf, als der Schrei des Vogels durch die Nacht hallte, und Siri sagte: »›Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche, die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang.‹«

    »Hm?«, sagte ich. Siri war fast sechzehn. Ich war neunzehn. Aber Siri kannte den gemächlichen Schritt der Bücher und die Kadenzen des Theaters unter den Sternen. Ich kannte nur die Sterne.
    »Entspanne dich, junger Schiffsmann«, flüsterte sie und zog mich neben sich. »Nur ein alter Tomsfalke auf der Jagd. Dummer Vogel. Komm zurück, Schiffsmann. Komm zurück, Merin!«
    Die Los Angeles hatte sich diesen Augenblick ausgesucht, über den Horizont emporzusteigen und wie eine vom Wind getragene Fackel vor den seltsamen Konstellationen von Maui-Covenant, Siris Welt, nach Westen zu ziehen. Ich lag neben ihr und beschrieb ihr die Funktionsweise des großen Spinschiffs mit Hawking-Antrieb, auf dem sich schräges Sonnenlicht von unten als Kontrast zur Nacht über uns fing, und dabei glitt meine Hand immer tiefer an ihrem weichen Leib entlang; ihre Haut schien aus Samt und Elektrizität zu bestehen, und sie atmete schneller an meiner Schulter. Ich vergrub mein Gesicht an ihrem Halsansatz und roch den Schweiß und die Parfümessenz ihres zerzausten Haars.
    »Siri«, sage ich, und diesmal kommt ihr Name nicht ungewollt über meine Lippen. Unter mir, unter der Hügelkuppe und dem Schatten des weißen Grabes steht die Menge und tritt von einem Fuß auf den anderen. Die Menschen sind ungeduldig. Sie möchten, dass ich die Gruft öffne, eintrete und meinen Augenblick der Ruhe in der kühlen, stillen Einsamkeit habe, die die warme Präsenz von Siri verdrängt hat. Sie möchten, dass ich mich verabschiede, damit sie mit ihren Riten und Ritualen fortfahren, die Farcasterportale öffnen und sich dem wartenden Weltennetz der Hegemonie anschließen können.
    Zum Teufel damit! Und zum Teufel mit ihnen!
    Ich zupfe einen Halm des dichten Weidengrases aus, kaue
auf dem süßen Stängel und suche am Horizont nach ersten Spuren der wandernden Inseln. Die Schatten sind noch lang im Morgenlicht. Der Tag ist jung. Ich werde eine Weile hier sitzen und mich erinnern.
    Ich werde mich an Siri erinnern.
     
    Siri war … was? … ein Vogel, glaube ich, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Sie trug eine Art Maske aus weißen Federn. Als sie sie abnahm und bei der Quadrille mitmachte, beleuchteten die Fackeln das dunkle

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